Tag 7: Lost in Trenitalia (03.03.2006, Freitag)
Am nächsten Morgen checkten wir dann aus dem Hotel aus und schleppten uns vollkommen übermüdet zum Bahnhof, nur, um dort festzustellen, dass unser Zug in fünf Minuten abfahren würde. Und das am anderen Ende des (großen!) Bahnhofs. Also sprinteten wir vorbei an Gepäckwagen und verschlafenen Pendlern, so schnell es denn mit zwanzig Kilo Gepäck auf dem Rücken ging, und wir schafften es tatsächlich gerade noch, ins letzte Abteil zu springen, das seltsam leer war.
Der Zug sollte nach Civitavecchia fahren, ein Ziel, dass wir uns ausgesucht hatten, weil … ja. Das wussten wir eigentlich auch nicht mehr so genau. Am Ende haben wir uns auf ein Missverständnis geeinigt, denn eigentlich wollten wir beide dort nicht wirklich hin und waren schließlich trotzdem da.
Jedenfalls fuhr der Zug ab, und unser Abteil war immer noch ungewohnt leer für einen Pendlerzug. An uns vorbei zogen die weniger sehenswerten Viertel von Rom, der Petersdom und Trastevere, bis ich dann wirklich das Gefühl bekam, dass etwas nicht stimmte. Schuld daran war der Tunnel, durch den wir fuhren. Eigentlich nichts besonderes, wie sich herausstellen sollte. Auf der Stecke gab es einige davon. Nur gab es in unserem Wagen kein Licht.
Ich erinnerte mich an kleine weiße Zettel, die an der Tür hingen, und forderte Eva dazu auf, den Zettel zu übersetzen (sie hatte schließlich ein halbes Jahr Italienisch und das Wörterbuch), doch es dauerte dank der wiederholt auftretenden Dunkelperioden satte zehn Minute, bis wir wussten, dass am Ende des Zuges einige Wagen hingen, die außer Betrieb waren. Warum auch immer, aber wir saßen in einem davon. Also schulterten wir unser Gepäck uns schleppen uns durch drei weitere leere Wagen, bevor wir in einem bemannten Abteil landeten. Etwas, das uns erspart geblieben wäre, wenn die Trenitalia unbenutzbare Wagen so kennzeichnen würde wie die Deutsche Bahn. Mit dicken, fetten, roten Verbotsschildern.
Natürlich wurden wir in dem neuen Wagen auch von allen Leuten angestarrt, als wären wir Aliens. Im ursprünglichen Sinne des Wortes waren wir das ja auch. Alle anderen waren Pendler und gaben sich Mühe, so gelangweilt und müde wie möglich auszusehen, während wir einfach nur auffielen. Was soll man denn auch machen, wenn man Rucksäcke trägt, die halb so groß sind wie man selbst?
Natürlich versuchten wir, unsere Unsicherheit zu überspielen und taten so, als wäre absolut nichts Ungewöhnliches passiert und als wüssten wir genau, was wir taten. Ein guter Witz. So wirklich ahnungslos waren aber anscheinend nicht nur wir, sondern auch die Angestellten der Trenitalia, die nicht wirklich in der Lage schienen, Fahrpläne richtig zu berechnen oder sich an sie zu halten. Wir waren nämlich fünfzehn Minuten zu spät, als wir endlich in Civitavecchia ankamen.
Dort fanden wir uns dann also auf dem unglaublich pittoresken Bahnhof wieder, errichtet im klassischen Siebziger Jahre Beton-Und-Fliesen-Stil. Und eigentlich wollten wir nur noch weg, wir wussten ja nicht einmal, warum wir überhaupt hingefahren waren.
Ein Blick auf einen der Partenza-Pläne verriet uns, dass in zehn Minuten ein Zug nach Pisa von Bahnsteig zwei abfahren würde – der aber nie kam. Der nicht besonders hilfreiche Schalterbeamte verriet Eva dann, dass wir noch anderthalb Stunden auf dem nervtötendsten Bahnhof von Italien verbringen mussten, also entschlossen wir uns, einige Minuten zum Strand hinunterzugehen, um die Zeit wenigstens etwas sinnvoll und in weniger abstoßender Umgebung zu verbringen.
Und ich muss sagen, dass das noch nicht einmal eine schlechte Idee war. Nach dem Smog von Rom kam einem die Luft dort so klar und gesund vor, dass man gar nicht genug davon bekam. Die Reaktionen der vereinzelten Einheimischen, die ihre Hunde spazieren führten oder joggten, waren auch sehr amüsant. Sie starrten uns an, als hätten wir zwei Köpfe und wären am Rücken zusammengewachsen. Ich gebe zu, außer uns gab es wahrscheinlich nicht besonders viele vollbepackte Touristen, die bei circa zehn Grad Celsius ans fast schon stürmische Meer gingen, und das an einer Stelle, an der es noch nicht einmal einen Strand gab.
Irgendwann neigte sich die himmlische Ruhe aus tosenden Wellen aber ihrem Ende zu. Wir mussten zurück, unser Zug sollte schließlich in ein paar Minuten ankommen. Die Betonung liegt dabei bei „sollte“. Er kam nämlich nicht. An sich nicht so schlimm, wären da nicht die Menschen gewesen, die außerdem auf dem Gleis gewartet hatten. Ich glaube, in Pisa fand genau an diesem Tag die Jahrestagung des italienischen Vereins für Nervensägen statt und die aus dem näheren Umkreis hatte sich alle für diesen Zug entschieden. Die Frau zum Beispiel, neben der ich die vierzig Minuten verbringen durfte, bis der Zug kam, brachte es tatsächlich fertig, gleichzeitig zu rauchen, Kaugummi zu kauen und zu telefonieren. Und das die ganze Zeit über. Zu dumm für mich, dass ich Nichtraucher bin, dass das Kaugummikaugeräusch mich in den Wahnsinn treibt und der italienische Handyfimmel mich einfach nur nervt.
Überhaupt, Italiener lieben ihre Handys. Da kam man sich fast wie in Japan vor, zumindest, wenn man sich am Klischee von Japan orientiert. Entweder sie tippten irgendetwas ein oder sie schrieen in ihre Handys, vollkommen egal, wer zuhörte oder ob es so laut war, dass man sich selber kaum verstand. Es konnte schon mal vorkommen, dass man in der Bahn zwischen drei Leuten stand, die lauthals mit ihren Handys kommunizierten, sodass man selber nicht mehr wusste, wo einem der Kopf stand. Ich wünschte sie hätten wenigstens den Anstand gehabt, leise zu reden oder sich an einen Ort zurückzuziehen, an dem nicht jeder mitbekam, mit wem man letzte Nacht Sex hatte, oder worüber sie auch immer geredet haben mögen.
Als wir dann endlich im Zug waren, war ich ziemlich mit den Nerven runter. Und zu unserem Pech mussten wir auch noch prompt in einen Schaffner laufen, der uns freundlich aber bestimmt in fast nicht existentem Englisch darauf hinwies, dass unsere Tickets in dem ICplus nicht gültig waren, denn seit Anfang des Jahres musste man die Plätze dort reservieren. Eva versuchte noch, mit ihm zu diskutieren, aber ich hatte die Nase voll und dachte mir, dass neun Euro für die nachträgliche Reservierung auch nicht die Welt waren. Im Vergleich zu den deutschen Preisen für Falschfahren jedenfalls. Und eigentlich war ich auch nur froh, endlich aus diesem Kaff raus zu sein.
Der Rest der Fahrt nach Pisa verlief relativ ereignislos. Wir fuhren durch viele Tunnel und vorbei an Palmen und Hotelanlagen, mit einem Tupfer Meer hier und da. Von Pisa aus wollten wir dann nach Florenz weiterfahren und kaum waren wir auf dem Bahnhof angekommen, fiel mir auf, dem gegenüberliegenden Bahnsteig die Ansagetafel auf, die einen Zug nach Florenz ankündigte. Es war noch nicht mal ein ICplus. Also stellten wir uns zu den Pendlermassen, die schon auf den Zug warteten, und weckten mit unserem kuriosen Touristenverhalten das Interesse des Mannes, der neben uns stand.
„You from Scotland?“, fing er das Gespräch an, und nachdem wir klargestellt hatten, dass wir aus Deutschland waren, mussten wir feststellen, dass Deutschland so ziemlich sein Lieblingsland war. Er erzählte uns in gebrochenem Englisch von seinen Besuchen auf deutschen Modelleisenbahnmessen, bis wir unterbrochen wurden, denn mit einem Mal wechselten alle Menschen von Gleis fünf auf Gleis vier, während wir uns ratlos umsahen. Der Zug war immer noch für Gleis fünf angezeigt, und auf Gleis vier sollte ein späterer Zug nach Florenz abfahren.
Unser neuer Bekannter stellte dann noch schnell klar, dass es der richtige Zug war, der da gerade einfuhr, und so stiegen wir das Beste hoffend ein. Wir unterhielten uns noch mir dem Eisenbahnfan, bis er auf halber Strecke aussteigen musste und wir weiter durch die Toskana tuckerten.
Der Bahnhof von Florenz sieht aus, wie alle anderen Bahnhöfe in Italien: nichtssagend. Aber ein Highlight gab es: den Bahnhofsgeldautomaten. Ein Geniestreich der modernen Technik, der mit Funktionen in verschiedenen Sprachen ausgestattet war, und somit den ausländischen Besucher aufs Beste unterhalten konnte. Die deutsche Version schien nämlich kaum mehr als eine Übersetzung der italienischen durch Babelfish oder ein ähnliches Programm zu sein. Und da Eva nun einmal dringend Geld brauchte, musste sie sich durch die verschiedenen Menüpunkte raten. Wie sich herausstellte, hebt man in Italien das Geld nicht ab, man behebt es. Ich schätze das sagt viel über die italienische Einstellung zu Geld, aber über die Bedeutung bin ich mir noch nicht ganz im Klaren.
Nachdem Eva wieder genug Geld für die nächsten Tage hatte, machten wir uns auf die Suche nach einer Touristeninformation, die dieses Mal zwar kein Hotel reservierte, die uns aber einen stabilen Hochglanzplan gab (im Gegensatz zum römischen Papierplan) und auf dem die billigen Hotels markiert waren. Mit diesem Plan ausgerüstet machten wir uns auf den Weg zum Ostello Archi Rossi, wo wir auch prompt zwei Betten in einem Vierbettzimmer bekamen. Und obwohl es in dem Zimmer nach Chlor roch und es kalt und feucht war, war ich ziemlich zufrieden. Denn im Gegensatz zum Hotel in Rom verfügte das Hostel über dreißig Minuten freien Internetzugang am Tag und ein Bad, in dem es doch tatsächlich eine Duschkabine gab. Außerdem war das Personal freundlich, hilfsbereit und in der Lage, verständlich Englisch zu sprechen. Und da es erst vier Uhr nachmittags war, hatten wir sogar noch Zeit, uns ein wenig die Stadt anzusehen. Und wie in Rom liefen wir einfach aufs Geratewohl los.
Und genau wie in Rom liefen wir dann auch mehr oder weniger unabsichtlich von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Vom Duomo zur Signoria und zur Ponte Vecchio. Auf dem Weg kaufte ich mir endlich etwas Essbares (Falafel), während ich langsam feststellte, dass mir Florenz um einiges besser gefiel als Rom. Nicht so hektisch, noch so auf Repräsentation gebaut, und alles in allem wesentlich charmanter. Ich führe das darauf zurück, dass mir Händlerstädte grundsätzlich sympathischer sind als Hauptstädte mit langweiligen Palästen und Boulevards.
Und auch obwohl Florenz total überlaufen mit Touristen jeglicher Couleur war, konnte ich nicht anders, als mich in die Stadt zu verlieben. Und ich kam auch voll auf meine Kosten, als Eva meinte, genau zu wissen, wo wir waren, nur weil sie schon einmal ein paar Stunden in Florenz gewesen war. An dieser Stelle würde ich mich gerne an eine Klassenfahrt in der achten Klasse erinnern, als wir in ihre Heimatstadt Göttingen gefahren sind. Sie hatte sich vollkommen verlaufen und beharrte darauf, dass wir an der Kreuzung vom „Nabel“ (einer Statue) sein müssten. Und dann weigerte sie sich mir zu glauben, dass es eine Straße weiter war, obwohl ich die Statue von der Stelle an der wir standen sehen konnte. Ich halte ihr das heute noch gerne vor. Ich gebe ja zu, dass mein Orientierungssinn in Städten manchmal etwas spinnt, aber meistens finde ich mein Ziel beim ersten Versuch, vor allem, wenn ich schon einmal da war. Aber in diesem Fall bestand Eva darauf, dass sie sich an die Geschichte des entsprechenden Ortes erinnerte, und dabei änderte sie permanent die Meinung über ebendiese.
Als nächstes machten wir uns dann auf die Suche nach dem Supermarkt, den der Portier im Ostello uns auf der Karte markiert hatte, und deckten uns da mit dem Notwendigsten ein (Cola und Schokolade), bevor wir wieder ins Ostello zurückkehrten. Im Fernsehraum lief gerade Fluch der Karibik auf Englisch, und die Computer wollten uns nicht ins Internet lassen, weil irgendwer sie überbeansprucht hatte. Ich habe den Verdacht, dass es Asiaten waren, denn fast alle Computer waren entweder auf Japanisch oder Koreanisch eingestellt, was bei den meisten angehenden Benutzern für Verwirrung sorgte.
Zurück auf dem Zimmer machte ich mich dann daran, mich ins Zuckerkoma zu futtern, doch bevor es nötig wurde, einen Krankenwagen zu rufen, kamen unsere Zimmerkameradinnen zurück, die sich nach kurzem Beschnuppern von etwa einer Minute als nett erwiesen. Die beiden Irinnen luden uns auf ein Glas (einen Plastikbecher) Rotwein ein und wir unterhielten uns ein paar Stunden, über unserer Erfahrungen in Italien und mit Sprachen, bevor die beiden sich auf den Weg zu einer Bar machten und wir uns bettfertig.