Tag 2: Hotel Dina (26.02.2006, Sonntag)
Die Erleichterung sollte aber nicht lange anhalten. Da wir kein bisschen geplant hatten, mussten wir noch ein Hotel finden. Dazu brauchten wir aber eine Touristeninformation, doch die war an einem Sonntagmorgen um sechs Uhr wohl noch nicht auf. Wir machten uns auf die Suche, bis wir schließlich auf dem Bahnhofsvorplatz landeten, wo ein sehr dubioser Taxifahrer versuchte, uns ein Zimmer für hundert Euro die Nacht anzudrehen, als Eva ihn nicht entschieden genug abwimmelte. Als ihm irgendwann klar wurde, dass wir arm wie Kirchenmäuse waren, machten wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub.
Nach weiterem Herumsuchen fragten wir an der Information der Trenitalia nach, deren Angestellter uns mit einem Blick, der deutlich machte, dass ihn unsere Probleme gar nichts angingen, auf „Gate 24“ verwies. Nachdem wir auf die Idee gekommen waren, dass „Gate“ in diesem Fall wohl Gleis meinte, fanden wir besagte Information auch am anderen Ende des Bahnhofs und setzten uns völlig erschöpft auf den Fußboden, doch wie wir feststellten, war diese Information sonntags gar nicht geöffnet. Also machte sich Eva auf die Suche nach der anderen angegebenen Information, während ich auf das Gepäck aufpasste. Sie kam einige Minuten später wieder und erzählte mir, dass die andere Information am anderen Ende des Bahnhofs liege (in der Nähe des ach so zuvorkommenden Trenitalia-Angestellten) und dass sie erst um sieben Uhr aufmache. Da keine von uns große Lust verspürte, sich aus der wärmsten und bequemsten Ecke des Bahnhofs wegzubewegen, beschlossen wir, uns erst um sieben Uhr wieder zu rühren.
Dieser Plan wurde von einem Angestellten der (wie sollte es auch anders sein) Trenitalia vereitelt, der uns auf dem Fußboden entdeckte und uns darauf verwies, dass das Sitzen auf dem Fußboden verboten sei und dass wir uns auf die (unbequemen und viel zu kleinen) äußerst modernen Sitze drei Meter weiter zu setzen hatten. Da der Mann uns das mit einer solchen Freundlichkeit zu verstehen gab, die der des anderen Trenitalia-Angestellten in nichts nachstand, gehorchten wir und holten uns Rückenschmerzen. Ich schätze, die Trenitalia verfügt über ein raffiniertes Auswahlverfahren für ihre Angestellten, das es jedem halbwegs netten Menschen unmöglich macht, dort zu arbeiten. Wahrscheinlich werden sie dazu noch in Simulationen geschult, mit jedem übermüdeten Reisenden so umzugehen, als sei er ein Hooligan bei einem Fußballspiel.
Kurz vor sieben hielten unsere Rücken es dann nicht mehr aus und wir trotteten zur Touristeninformation, deren Angestellter zu unserem Glück nicht zur Trenitalia gehörte und der tatsächlich kompetent unsere Fragen beantwortete. Fünf Minuten später waren wir 150 Euro ärmer und ein Hotelzimmer reicher. Und unser Hotelzimmer lag nur zwei Straßen vom Bahnhof entfernt. In unseren Köpfen entstanden Phantasien von Betten, einem Bad und Schlafen, während wir uns erleichtert grinsend an Internet-Cafés, Gelaterias, Pizzerien und einer kleinen Dönerbude vorbei und um die Ecke in die Via Principe Amedeo schleppten, dann stapfte wir die Treppen hinauf in den ersten Stock des „Hotel Dina“, wo wir an der Rezeption auf einen Mann mit sehr kurzen Haaren trafen, der uns mit versteinerter Miene unsere Personalausweise abnahm und uns sagte, wo wir unser Gepäck abstellen konnten. Auf unsere Frage, wann das Zimmer denn fertig sein würde, bekamen wir nur die Antwort „Later“.
„How much later is later?“, hakte Eva nach.
Ein schadenfrohes Grinsen. „Later.“ Vermutlich hatte der Mann die Trenitalia-Schulungen besucht.
Und so kam es, dass wir an einem Sonntagmorgen um halb acht, ohne Essen, ohne Schlaf und ohne ein bestimmtes Ziel einfach losliefen. Und zu diesem Zeitpunkt sollten wir eine Erkenntnis über Rom erlangen, die man wohl auf diese Art und Weise am schnellsten macht: Wohin man in Rom auch geht, man stolpert zwangsläufig über Geschichte. Unser erster Stolperstein war die Kirche Santa Maria Maggiore, eine der größten Kirchen Roms. Wir saßen etwas vor ihr und bewunderten den architektonischen Mischmasch (wir beide wollte am Sonntag nicht in eine katholische Kirche). Als wir uns schließlich aufrafften und weiter gingen, landeten wir bei einer weiteren Kirche, wir gingen weiter, vorbei an einer Mauer, hinter der Palmen hervorragten und zu einem Park, in dem wir tatsächlich Menschen (mit ihren Hunden) begegneten.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass sonntagmorgens um acht Uhr wohl die beste Zeit ist, Rom zu erkunden, weil man die Stadt praktisch für sich hat. Niemand, nicht mal die Straßenverkäufer, die sonst immer an jeder Ecke herumlungern, sind um diese Uhrzeit auf den Beinen. Die Stadt ist frei vom üblichen Großstadtlärm und den Unmengen an Touristen.
Der Park, stellte sich heraus, lag zwischen/über/neben den Überresten vom Domus Aurea, dem Palast Neros, und einer alten Therme, und sobald wir ihn durchquert hatten, standen wir vorm Kolosseum. Und auf dem Platz zwischen Kolosseum, dem Arcus Constantini und dem Forum Romanum waren etwa zehn Menschen unterwegs. Einer von ihnen als römischer Soldat verkleidet. Mir tat der Mann leid, da er um so eine Uhrzeit arbeiten musste, wo es doch so offensichtlich sinnlos war.
Da wir immer noch nicht genug Zeit totgeschlagen hatten, entschlossen wir uns, die Via Sacra hinaufzusteigen und uns ein bisschen umzusehen. Unsere einzigen Begleiter waren eine andere Touristin und eine schwarz-weiß-gepunktete Katze. Wieder unten angekommen entschlossen wir uns eine weitere Pause zu machen, bis wir von einer japanischen Touristin (es erstaunte mich, dass es die auch im Singular gab) nach irgendeiner Kirche „Santa-Maria-soundso“ gefragt wurden, von denen es in Rom wohl so um die hundert gibt.
Inzwischen war es neun, und wir beschlossen, unser Glück noch einmal zu versuchen. Wieder zurückmarschiert trafen wir auf einen anderen Portier, der mich in Aussehen und Verhalten stark an meinen irren Religionslehrer aus der Mittelstufe erinnerte (das letzte, was ich über ihn gehört habe war, dass er im Alkoholentzug war) und er uns höflich zu verstehen gab, dass wir vor zwölf gar nicht wiederzukommen brauchten.
Da wir beide uns nicht mehr viel bewegen konnten, beschlossen wir, uns irgendwo am Bahnhof hinzusetzen, doch zu meinem Unglück mutierte Eva plötzlich zur Prinzessin auf der Erbse und war mit keinem Platz zufrieden. Nachdem wir uns einen Platz in der Nähe des Bahnhofs ausgesucht hatte und dort eine halbe Stunde gesessen und Evas Notration verspeist hatten, war ihr der Platz zu unbequem. Die Suche begann von neuem aber auch mit allen anderen Stellen stimmte etwas nicht, sie waren entweder zu unbequem, es war zu laut, zu dreckig, es stank, die Umgebung war nicht schön genug und so weiter. Die Liste reichte bis ins Endlose. Irgendwann fand Eva dann einen Platz der ihr gefiel: Eine Bank im Garten zum Eingang zu den Bädern des Diokletian. Und dort blieben wir dann auch sitzen, bis uns ein freundlicher Museumsangestellter darauf hinwies, dass die Bänke nur für Besucher des Museums gedacht waren. An der nächsten Stelle saßen wir so lange, dass Eva sogar zweimal nach der Uhrzeit quengeln konnte (in allerbester Kleinkindmanier), doch dann stank es ihr zu sehr und es war zu laut. Am letzten Platz schließlich wollte sie nicht mehr sitzen, wusste aber auch nicht, wo wir sonst hinsollten.
Ich lenkte schließlich ein und wir kauften uns am Bahnhof vollkommen überteuerte Getränke, bevor wir wieder zum Hotel gingen (es war etwa eins). Und siehe da, aller guten Dinge sind drei, der Religionslehrer gab uns die Schlüssel und ich ließ mich ins Bett fallen. Nach einer Stunde dösen wachte ich auf. Wir hatten eigentlich noch geplant, uns die Stadt weiter anzuschauen, doch wir beide waren viel zu erschöpft und so verbrachte ich den Nachmittag mit Lesen und Eva ihn mit ihrem Hörbuch, bis wir uns schließlich gegen sieben schlafen legten.