Tag 1: Eine Zugfahrt die ist lustig, eine Zugfahrt die ist … (25-26.02.2006, Samstag und Sonntag)
Meiner Meinung nach gibt es in der modernen Welt nur noch eine wahre Art der Abenteuerreise: die Bahnreise. Nirgendwo sonst ist man so sehr den Widrigkeiten der Umwelt ausgesetzt und nirgendwo sonst schlagen Planänderungen wie Natur-katastrophen ein und in solch einer Zahl zu.
Da Eva und ich einmal in unserem Leben verreisen wollten, ohne dabei zu planen, erschien uns die Bahnreise als die beste Alternative, schließlich würden sich alle Pläne früher oder später sowieso in Wohlgefallen auflösen. Und so kauften wir uns ein Interrailticket für Italien mit Hin- und Rückreiseticket. Der Kauf erwies sich schon als kompliziert genug (wir verbrachten zwei Stunden damit), also erhofften wir uns von der eigentlichen Anreise einiges. Und wir wurden nicht enttäuscht. Unser Zug fuhr um Punkt 810 Uhr (also genau nach Plan) vom Leipziger Hauptbahnhof ab, und der erste Abschnitt unserer Reise erwies sich als gemütliche Passage durchs Erzgebirge, vorbei an Städten, in denen man nie im Leben würde wohnen wollen und bei denen man dankbar war, nur auf der Durchfahrt zu sein. Weiter ging es durch Bayern bis nach München, wo wir dank des gemächlichen Tempos mit zwanzig Minuten Verspätung eintrafen.
Leider enttäuschte die Deutsche Bahn uns und wir erreichten unseren Anschlusszug nach Mailand, da er auf die Passagiere aus unserem Zug wartete, die allesamt, von der schieren Angst zurückzubleiben getrieben, im Laufschritt und mit schwerem Gepäck ein paar Gleise weiter stolperten.
Nun hatte aber keiner der geehrten Fahrgäste damit gerechnet, dass es vielleicht ein wenig voll werden könnte, wenn man an einem Samstag im Februar mit dem Zug durch die Alpen fährt. Und leider hatte die Deutsche Bahn AG wohl nicht daran gedacht, dass man für einen Zug nicht mehr Fahrkarten als Sitzplätze verkaufen und damit rechnen sollte, dass all die hochverehrten Kunden mit Gepäck reisen könnten
So kam es, dass wir uns nach furchtbarem Gedränge am Ende eines Waggons neben den Toiletten wiederfanden, zusammen mit einer Italienerin und ihrem weinenden Baby und zwei Reisenden aus Hannover, die ihren Skiurlaub in Innsbruck verbringen wollten, und die sich dieses Mal für eine Anreise mit der Bahn entschieden hatten; aus demselben Grund wie wir übrigens, und weil ihr Auto beim vorletzten Mal auf halber Strecke eine Panne hatte, dank der sie für die Strecke die doppelte Zeit brauchten.
In überfüllten Zügen treten zwei Phänomene auf, die mich immer wieder erstaunen und die mich bei diesen Fahrten so sehr ablenken, dass mir die Rückenschmerzen vom Stehen gar nicht mehr auffallen. Erstens: Es gibt immer Leute, die freiwillig in den (mit Menschen und Koffern) vollgestellten Gängen hin und her gehen, ohne dabei ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, wie in diesem Fall zum Beispiel ein älterer Herr mit ergrauendem Haar, Bierbauch und Pullunder, der, wie ich aus erster Hand sagen kann, nicht die Toilette suchte. Und egal wie eng es ist und wie dick der entsprechende Störenfried ist, er kann immer von A nach B (oder auch zurück nach A) gehen. Ich denke dieses Phänomen erfordert empirische Forschung und ich bin mir sicher, dass ich nicht die einzige bin, die sich brennend für die Ergebnisse interessiert.
Und Zweitens, ein Phänomen, das seltsamerweise nur in überfüllten Zügen auftritt, ich denke es hat etwas mit dem Platzmangel und einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage zu tun: Man trifft immer nette Menschen. Wie zum Beispiel in unserem Fall die beiden Hannoveraner, die uns nach kürzester Zeit alles über ihre Urlaube erzählt hatten, und über ihre Erfahrungen mit Zugfahrten, speziell der Fahrt von Hannover nach München, die sie in Gesellschaft betrunkener Werder-Fans aus Oldenburg verbringen durften. Es tat uns fast leid, als wir uns in Innsbruck von ihnen verabschieden mussten, doch da wir endlich ein Abteil gefunden hatten waren wir mehr als zufrieden.
So verbrachten wir die nächsten paar Stunden in entspannter Ruhe (Die drei Italiener, die bald zugestiegen waren, waren alle in ihre Lektüre vertieft.), bis ein Mann darauf beharrte, dass er unsere Plätze reserviert hatte (was ich bis heute nicht glaube), anstatt sich ins Nachbarabteil zu setzen, in dem mehr Platz war. Also zogen wir ins Nachbarabteil, in dem nur eine nette italienische Dame saß, die sich nach einiger Zeit angeregt mit Eva unterhielt, obwohl Eva kein Italienisch und die Italienerin weder Englisch noch Deutsch konnte.
Als wir um kurz vor neun Uhr abends schließlich in Mailand ankamen (fast pünktlich, die Italiener hatten die ursprüngliche Verspätung auf sechs Minuten verkürzen können), machten wir uns auf die Suche nach einem Imbiss, doch komischerweise hatten nur noch Eisdielen geöffnet. Und in dem winzigen Bahnhof gab es gleich mehrere. Ich denke, ich werde nie verstehen, warum es in ganz Italien eine beinahe obszöne Menge an Eisdielen gibt, Gelaterias genannt, aber nicht eine einzige Frittenbude. Es gibt zwar sehr vereinzelt Dönerbuden, aber an den Plätzen, an denen es darauf ankommt, gibt es nur Gelaterias oder Pizzerien, nicht einmal einen McDonald’s (sie sind etwa so häufig wie Dönerbuden).
Nachdem wir immer noch hungrig aber sicher waren, dass wir diesen Zustand nicht ändern konnten, machten wir uns auf die Suche nach unserem binario (Gleis), das wir nach einigem Hin und Her auch fanden. Ich hatte mich auf dem Plan nämlich in der Spalte vertan und wir mussten an das andere Ende des Bahnhofs laufen, der zum Glück nicht zu groß war. Dort stiegen wir dann in den Nachtzug von Mailand nach Salerno, der um neun Minuten vor fünf in Rom Tiburtina halten sollte.
In diesem Zug gab es zu meinem Entzücken trotz des ersten Eindrucks sich hineindrängender Passagiere sehr viel Platz, sodass Eva und ich ein ganzes Abteil für uns hatten. Also machten wir es uns so gemütlich wie es eben ging und versuchten zu schlafen, ein Unterfangen, das sich als praktisch unmöglich herausstellte. Denn obwohl man das Licht ausmachen konnte und es keine Lautsprecheransagen gab, kam man unmöglich zur Ruhe. Weiter vorne lärmten italienische Halbstarke, der Mann im Nachbarabteil brüllte in sein Handy und am Ende des Wagens kläffte ein Tritt-mich-nicht-Hund jedes Mal, wenn sich einer der anderen Reisenden vorbeischlich. Hinzu kamen noch der Getränkeverkäufer, der in unregelmäßigen Abständen mit einem schrillen Glöckchen bewaffnet am Abteil vorbeizog, und die Heizung, die das Abteil auf schätzungsweise 30°C erhitzte.
Irgendwie schaffte ich es dann aber doch, einzudösen und schreckte aus meinem Halbschlaf nur an wenigen Bahnhöfen (Bologna und Florenz) hoch, oder eben wenn das schrille Glöckchen ertönte, bis ich um kurz vor vier einen Blick aus dem Fenster warf und ein „Roma Tiburtina“-Schild vorbeihuschen sah.
Aus einem mir bis heute unerfindlichen Grund waren wir fünfzig Minuten früher als auf dem Plan angegeben an diesem Bahnhof angekommen, wie wir nach geschlagenen zwanzig Minuten endlich herausgefunden hatten. Nachdem wir endlich jemanden gefunden hatten, der mehr auf English sagen konnte als „No speak English“. Als wir uns dann todmüde und schwerbeladen durch den Bahnhof quälten, stellten wir auch fest, dass es den angegebenen Anschlusszug gar nicht gab. Wir fragten einen Bahnhofsangestellten, dem wir nach einigem Gestammel sogar begreiflich machen konnten, was unser Problem war, und der verwies uns auf die Metro.
Da wir am Bahnhof keinen Sitzplatz bekommen konnten (alle Sitze waren mit vollkommen übermüdeten Reisenden belegt, einige schienen sogar zu schlafen), schleppten wir uns zur Metro hinunter, die natürlich noch nicht fuhr, aber vor deren Gitterabsperrung schon einige Leute warteten, unter anderem zwei junge Briten, mit denen wir uns unterhielten, bis wir auch dazu zu müde waren.
Gegen halb sechs wurde dann das Gitter aufgeschlossen und die Wartenden stürmten (für ihre allgemein nicht gerade wache Verfassung) schnell zu den Kartenautomaten, die die nervtötende Angewohnheit hatten, jedes Geldstück mindestens einmal abzulehnen, und lösten unter einigem Gefluche ihre Karten. Ansonsten ist die römische Metro in etwa genauso wie jede andere auch: kalt, hässlich gefliest und nicht gerade einladend. Zum Glück kam der Zug bald und ich war schon fast erleichtert, als wir nach beinahe einem Tag endlich unser Ziel erreicht hatten – Roma Termini.