Kapitel IX: Die Nacht im Wald
An dem Tag, an dem sie Erador verließen, fing es am Nachmittag an, in Strömen zu gießen. Celia machte das nicht wirklich etwas aus. Ihre Kleidung war aus einem Stoff gemacht, der schnell wieder trocknen würde. Es war ja schon fast Sommer, und wenn die Sonne schien, kam man schnell ins Schwitzen.
Ihre Mitreisenden aber freuten sich nicht wirklich über das Wetter. Reda war ständig um seine Stoffe besorgt und kontrollierte so oft wie möglich die Abdeckung. Melanons Kutte war nach einigen Minuten so durchtränkt, dass sie mindestens drei Mal so schwer zu sein schien. Celia war sich ziemlich sicher, dass es Tage in der Sonne brauchen würde, bis sie vollkommen getrocknet war. Oreas behielt, zu niemandes Überraschung, seine stoische Haltung auch bei Regenwetter bei, war aber aufmerksamer als sonst, da durch den rutschigen Boden eine größere Gefahr für seine Pferde bestand.
Auch in der Nacht hörte es nicht auf zu gießen, und auch wenn das monotone Platschen ihr beim Einschlafen half, so fühlte Celia sich am nächsten Morgen doch etwas unwohl, weil alles an ihr klebte.
Während sie am Vormittag weiter ritten, hörte es dann auch endlich auf zu regnen, und die Sonne brach zwischen den Wolken hervor. Den ganzen Tag über konnte Celia beobachten, wie sie alles aufheizte und von überall her winzige Wassertröpfchen aufstiegen und einen leichten Nebel bildeten. Sogar Melanons Kutte dampfte sichtlich, was ihn irgendwie wie einen Geist wirken ließ. Überhaupt wirkte alles so unwirklich und nach dem Lärm in der Stadt schien ihr alles so gedämpft und still zu sein, wie in einem bizarren Traum.
Am späten Nachmittag schließlich erblickte Celia etwas, das ihr Herz vor Aufregung höher schlagen ließ. Vor ihnen lag eine Front aus Bäumen. Wirklich vielen Bäumen. Sie freute sich so sehr, wieder einen Wald zu sehen, dass sie Heria die Sporen gab und ein Stück voraus ritt.
Sobald sie die Grenze zwischen Wald und Wiese passiert hatte, bekam sie das merkwürdige Gefühl, sich selbst und aller Dinge absolut sicher zu sein. Das war ihre Welt. Hier konnte ihr keiner das Wasser reichen. Hier brauchte sie Melanons Hilfe nicht, um sich zurecht zu finden. Sie war zuhause.
Die anderen belächelten den Enthusiasmus der Elfe nur. Melanon konnte sie irgendwie verstehen. Es war schließlich fast wie wieder nach Hause zu kommen, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, wo sein Zuhause lag. Der Ritt durch den Wald würde etwas zwei Tage beanspruchen, also konnte die Waldelfe diese Zeit ausgiebig genießen. Was sie im Übrigen auch vorhatte.
Während die anderen das Abendessen an ihrem Lagerplatz, einer kleinen Lichtung am Rande der Straße, zubereiteten, erkundete Celia die nähere Umgebung. Dieser Wald war definitiv anders, als ihr Zuhause, ein paar Bäume aus ihrer Heimat fanden sich nicht, dafür gab es einige Sträucher, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Tiere waren jedoch dieselben, so weit sie es feststellen konnte.
Nach dem Abendessen nahm sie sich dann einfach ihre Sachen und verabschiedete sich. Sie hatte auf ihrer Erkundungstour einen Baum gefunden, der sich wunderbar zum Schlafen eignete. Seine Äste waren breit und bildeten eine Gabel, in die sie sich legen konnte. Und aus irgendeinem Grund hatte sie das dringende Bedürfnis, das auch zu tun. Reda machte zwar ein unverständiges Gesicht (was Oreas zu amüsieren schien), als sie ihren Begleitern ihr Vorhaben erklärte, aber abbringen ließ sie sich davon trotzdem nicht.
Der Baum war nicht groß und auch sonst nichts besonderes, aber in Celias Augen war er unglaublich bequem und sicher. Es erinnerte sie so sehr an Zuhause, in einem Baum zu schlafen. Alles war so vertraut. Vom Geruch leicht nasser Rinde und Moos, bis hin zu den Geräuschen. Dem Rascheln der Blätter und das Knartzen, das durch das sanfte hin- und herwiegen des Baumes entstand. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich fast einbilden, sie hätte den Wald nie verlassen.
*
Celia wachte plötzlich auf, ohne irgendeinen erkennbaren Grund. Es war immer noch dunkel, der Wald wurde nur von sanftem Mondlicht erhellt. Im ersten Moment wusste sie nicht, was sie geweckt hatte, denn alles war ruhig. Nirgendwo bewegte sich etwas. Es dauerte etwas, bis sie schließlich realisierte, dass es genau das war, was sie aufgeweckt hatte. Es war zu ruhig gewesen. Viel zu ruhig. Nirgendwo regte sich ein Tier. Nicht einmal eine vereinzelte Eule schuhute. Etwas, das war ihr jetzt klar, stimmte hier ganz und gar nicht.
Dann fiel ihr ein, dass die anderen mit ihren weniger guten Ohren vermutlich gar nichts merkten und seelenruhig weiterschliefen. Sie musste sie unbedingt warnen. Also ließ sie sich von ihrem Baum gleiten und spitzte dabei die Ohren. Sie machte praktisch kein Geräusch. Erst recht keines, das einem potentiellen Angreifer auffallen würde. Sie schaute sich noch einmal gründlich um, sah aber nichts. Im Wald musste das allerdings nichts heißen, denn immerhin konnte man selbst bei Tageslicht nicht sehr weit sehen.
Celia schlich sich langsam und ohne ein Geräusch zu machen zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch zum Lager ihrer Freunde. Als sie es erreicht hatte, blieb sie im Dickicht versteckt und suchte den Platz nach etwas verdächtigem ab. Hier war bei jedem Schritt Vorsicht angebracht.
Genau in dem Moment, in dem sie eine verdächtige Bewegung am anderen Ende der kleinen Lichtung ausmachte, wurde sie von hinten gepackt. Instinktiv wollte sie schreien und die anderen warnen, aber eine Hand wurde auf ihren Mund gepresst und ließ nur ein ersticktes Winseln zu.
„Shhh“, zischte jemand.
Sie brauchte ein paar Sekunden, im zu begreifen, dass es kein Feind war, der sie gepackt hatte, sondern Oreas. Er musste wohl auch durch die Stille aufgewacht sein. Ihr wurde klar, wie sehr sie den Halbelf immer unterschätzt hatte. Er war zwar „nur“ ein Halbelf, aber er hatte viel mehr Zeit in der Menschenwelt verbracht und wusste besser mit ihren Gefahren und Tücken umzugehen, als sie.
Sobald Oreas spürte, dass sie sich entspannt hatte, ließ er sie los und drehte sie zu sich um. Sie wollte ihn gerade fragen, was los war, als er ihr den Zeigefinger auf die leicht geöffneten Lippen legte und ihr direkt in die Augen sah. Sein Blick war voll konzentriert und gab ihr zu verstehen, dass sie besser seinen Anweisungen folgen sollte. Celia hatte nicht wirklich das Bedürfnis, dem zu widersprechen. Dann nickte er in Richtung Lagerplatz und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das direkte Problem.
Auf der Lichtung konnte sie Melanons und Redas schlafende Formen erkennen. Oreas verlassenen Schlafplatz, die Pferde, den Wagen – und dann sah sie sie. Fünf Männer, die sich langsam zu den Schlafenden bewegten. Sie hatten Gegenstände in den Händen. Einige blitzen im Mondlicht auf. Arqua hob den Kopf, schnaubte und bewegte sich unruhig. Die Männer blieben aus Vorsicht stehen. Nun konnte die Elfe auch ihre zerschlissene Kleidung und die diversen Knüppel und Waffen sehen. Einer von ihnen begutachtete den Wagen, während die anderen weiter auf Reda und Melanon zuschlichen, die immer noch tief schliefen, ohne die Gefahr zu ahnen.
„Weck Melanon, ich lenke sie ab“, flüsterte Oreas in ihr Ohr, dann war er verschwunden.
Es dauerte nur Sekunden, und er war auch schon auf der anderen Seite des Platzes aufgetaucht. Seine blasse Haut und sein Haar schimmerten im Mondlicht, fast als würde er von innen heraus strahlen. Ob sie wohl auch so surreal wirkte? Die Männer hatten ihn sofort bemerkt und drei von ihnen stürzten auf ihn zu, während die anderen sie von hinten deckten. Niemand beachtete mehr die Schlafenden.
Ohne auch nur einen weiteren Gedanken an Oreas zu verschwenden, huschte Celia zu Melanon, wie es ihr befohlen wurde. Sie war so leise, wie sie nur konnte, auch wenn man sie durch das Gewirr von Schritten wohl kaum gehört hätte.
Sie brauchte Melanon nur einmal zu schütteln, schon riss er die Augen auf. Da zerriss auch schon ein Klirren von Metall auf Metall die unnatürliche Stille.
Celia konnte gar nicht so schnell reagieren, da war Melanon schon aufgesprungen und schien sich stark zu konzentrieren. Sie verstand nicht, folgte aber seinem Blick.
Oreas war von den Männern gegen einen Baum gedrängt worden, den er im Rücken als Deckung verwendete. Die Männer griffen ihn immer wieder mit ihren Schwertern an, und er hielt dagegen. Er konnte ihre Angriffe erstaunlich gut abwehren, und sogar Celia konnte sehen, dass seine Bewegungen Kraft sparender und präziser waren, als die seiner Gegner. Von der bizarren Eleganz ganz zu schweigen.
Die zwei anderen Männer, die bis dahin nur daneben standen, wanden sich nun wieder dem Rest ihrer Beute zu, nur um zu entdecken, dass sie aufgewacht waren. Auch Reda stand inzwischen verschlafen, geschockt und unschlüssig neben seinem Wagen. Einer der Männer stürzte sich auf ihn. Er tat das einzig kluge – er floh in den Wald.
Der andere ging auf Melanon zu und hob seinen Knüppel in die Luft. Doch der Magier hatte seine Augen inzwischen geschlossen und sah die Gefahr nicht, in der er sich befand. Celia musste ihm helfen. Verzweifelt sah sie sich nach einer Waffe um und griff schließlich willkürlich einen Stein vom Boden. So stark sie konnte schmetterte sie ihn von der Seite gegen den Kopf des Angreifers. Der hatte mit so einer Attacke nicht gerechnet und nicht schnell genug reagiert, um den Schlag noch anzufangen. Er fiel mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Ein kurzer Blick auf Oreas verriet ihr, dass auch er einen seiner Gegner zu Boden geschickt hatte, doch die anderen beiden kämpften verbissen weiter.
Die Schritte des Mannes, der erst Reda verfolgt hatte, zogen nun ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er rannte auf Melanon zu, eine Axt in der Hand. Ohne groß nachzudenken hob Celia ihre Hände, in denen immer noch der Stein lag, und schleuderte ihn auf den Angreifer zu. Sie traf ihn im Magen und er strauchelte, fing sich aber wieder.
Just in diesem Moment streckte Melanon seine Hände aus. Einen endlosen Moment schien die Welt im Stillstand zu verharren, dann schossen plötzlich zwei gleißende Blitze aus seinen Händen auf die zwei Angreifer von Oreas zu. Getroffen gingen beide zu Boden und schrieen unmenschlich. So schnell er konnte, machte sich der übrig gebliebene Mann davon, ebenso wie seine Freunde, die immer noch Höllenqualen von Melanons Blitzen zu leiden schienen. Oreas machte erst Anstalten, ihnen zu folgen, entschied sich dann aber doch dagegen. Es war so schnell vorbei, wie es begonnen hatte.
Kaum bestand keine Gefahr mehr, begann Melanon bedrohlich zu schwanken. Celia fiel der Schweiß auf seiner Stirn auf. Dann fiel er zur Seite. So schnell sie konnte, rannte sie Elfe zu ihm, um herauszufinden, was nicht mit ihm stimmte. Er atmete schwer, doch ansonsten war er unversehrt.
„Er hat sich überanstrengt“, antwortete Oreas auf ihre unausgesprochene Frage. Inzwischen stand er hinter ihr. „Lass ihn eine Weile schlafen und leg ihm einen feuchten Lappen auf die Stirn.“
Celia tat wie ihr geheißen, und blickte wieder zu Oreas, sobald sie fertig war. Der Halbelf blickte konzentriert ins Dunkel, um die Angreifer zu sehen, falls sie noch einmal wiederkämen. Sie folgte seinem Blick, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen.
„Was war das?“, fragte sie.
„Was war was“, war die Gegenfrage.
„Die Männer, die Blitze … alles.“
Oreas seufzte erschöpft. „Die Männer waren Räuber. Sie wollte wohl den Wagen von Reda stehlen. Vielleicht auch die Pferde. Kann auch sein, dass die dachten, Melanon hätte etwas Wertvolles dabei. Oder sie waren hinter die her—“
„Hinter mir?“, fragte Celia überrascht.
„Ja, hinter dir“, bestätigte Oreas „Mich hat schon die ganze Zeit gewundert, warum Cherad dich jedes Mal so angestarrt hat. Ich hätte mir denken können, dass er was im Schilde führt. Er könnte die Männer bezahlt haben, dich zu stehlen, so dass er dich verkaufen kann. Das weiß man bei ihm nie. Er ist ein ziemlich gerissener Hund. Dummerweise ist er auch der beste Gastwirt in ganz Erador.“
„Verkaufen, aber … das … ich bin doch—“
„Eine Elfe. Eine Waldelfe. Es gibt Menschen, die ein Vermögen für dich bezahlen würden. Offiziell gibt es zwar keine Sklaverei mehr in Caronia, aber in Akweah ist sie noch erlaubt. Für eine Seltenheit wie dich würde jeder Sklavenhändler dort mehr bekommen, als er normalerweise in einem ganzen Jahr verdienen würde.“
„Aber das ist doch falsch! Niemand kann an einen anderen Menschen verkauft werden! Jeder gehört sich selbst!“, empörte sie sich.
„Sieh es ein. Es gibt Menschen, die anderen Menschen gehören, und es gibt Menschen, die andere Menschen fangen, um sie zu verkaufen. So ist es nun mal“, antwortete Oreas schulterzuckend.
Celia schwieg eine Weile. Das musste sie erst einmal verdauen. So etwas wie Sklaverei sollte es in ihren Augen nicht geben. Dagegen musste man doch etwas tun können. So ein schreiendes Unrecht gehörte bestraft. Dann fiel ihr ein, dass sie ja noch andere Fragen hatte, und sie etwas vom Thema abgekommen waren.
„Und die Blitze?“
„Du weißt doch, dass Melanon ein Magier ist. Er hat ihnen Schmerzflüche auf den Hals gehetzt.“
„Aber er hat seine Ausbildung noch nicht beendet, kann er das dann überhaupt richtig? Ist er deshalb umgekippt?“
„Ja und nein. Seine Magie wäre normalerweise mehr als ausreichend, um in Sekundenschnelle mehr als einem Dutzend Männer so etwas anzutun. Und noch mehr.“ Oreas machte eine Pause. Celia hatte nicht gewusst, dass Melanon zu so etwas in der Lage war. Sie wusste nicht, ob sie beeindruckt oder verängstigt sein sollte. Dann fuhr er fort: „Aber wenn ein Magierschüler die Ausbildung abbricht, wird er von den ältesten und mächtigsten Magiern versiegelt, so dass er seine Magie nicht mehr benutzen kann. Weil Melanon aber so stark ist, dass er es selbst mit den Ältesten aufnehmen könnte, wirkt der Bann nicht richtig. Wenn er genug Energie benutzt, kann er immer noch Magie anwenden. Es ist nur sehr anstrengend. Deswegen ist er jetzt bewusstlos.“
Das war wohl mit Abstand das meiste, das Oreas je zu ihr gesagt hatte, aber sie war viel zu sehr mit Melanon beschäftigt, um das zu bemerken. Er sah ungewöhnlich blass und ausgezehrt in dem spärlichen Licht aus. Und er atmete immer noch schwer, auch wenn er nicht mehr so sehr schwitzte, wie zu Beginn. Durch Zufall fiel ihr Blick auf den Mann, dem sie den Stein gegen den Kopf geschlagen hatte. Und ihr wurde bewusst, was sie getan hatte.
„Oreas … ist … ist er … tot?“, sie deutete auf den Körper und ihre Kehle schnürte sich zu. Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen, ohne, dass sie es verhindern konnte. Eigentlich brauchte sie die Antwort gar nicht. Sie konnte es spüren.
„Ja, er atmet nicht mehr.“
Celia konnte nicht anders, als in Tränen auszubrechen. Immer wieder murmelte sie unverständliche Wörter zwischen ihren Schluchzern vor sich hin. Oreas konnte gerade noch „wollte ich nicht“ und „meine Schuld“ heraushören. Die Situation war ihm mehr als unangenehm, und für einen Moment war die immer noch drohende Gefahr vergessen. Er war einfach nur hilflos, angesichts der Tatsache, dass er nun eine aufgelöste Elfe vor sich hatte, der er irgendwie helfen musste. Bald konnte er sich das einfach nicht mehr mit anhören.
„Du hattest keine Wahl. Er hätte dich vielleicht, aber mit Sicherheit Melanon getötet. Du konntest nichts dafür.“ Das war das einzige, was ihm einfiel, aber seine Worte hatten nicht die gewünschte Wirkung. Die Elfe weinte ununterbrochen weiter. Bald wurden ihre Schluchzer aber von selber leiser. Schließlich schlief sie vor Erschöpfung ein und rollte sich neben Melanon zusammen.
Oreas blieb die ganze Nacht wach. Nachdem Reda zurückgekommen war, schafften sie zusammen die Leichen weg. Es war nicht nötig, die Elfe am nächsten Morgen noch mehr zu verstören, und wenn er ehrlich war, war ihm die Anwesenheit der Toten selber unangenehm. Nicht, dass er abergläubisch wäre, aber trotzdem. Die toten Körper ließen sie einfach ein Stück weiter im Wald liegen. Zum verscharren blieb keine Zeit.
Den Rest der Nacht verbrachte er damit, in die Dunkelheit zu starren und zu horchen, doch es blieb ruhig, oder laut, wie auch immer man es sah. Nichts war ungewöhnlich, als wäre nie etwas passiert.
*
Celia ging es am nächsten Morgen immer noch nicht viel besser. Sie hatte einen Menschen getötet. Damit musste sie fertig werden. Und sie musste es mit sich selbst ausmachen. Das Schlimmste war, dass sie nicht wusste, wer ihr mehr leid tat: der Mann, den sie getötet hatte, oder sie selbst. Die Schuldgefühle ließen jedoch nicht im Mindesten nach.
Melanon war immer noch stark geschwächt und saß wie ein Schatten seiner selbst auf Arqua. Er war kaum in der Lage, sich auf etwas anderes als das Sitzen im Satten zu konzentrieren. Aber wenigsten konnten sie weiter und mussten nicht noch länger bleiben. Oreas und Reda waren einfach nur übermüdet.
Von dieser Nacht an verabredeten sie eine Nachtwache. Die erste sollte Celia halten, und sie hielt auch durch, auch wenn es nicht wirklich das Beste für sie war, nachts alleine wach zu bleiben. Nur mit ihren Gedanken als Gesellschaft. Mehr als einmal sah sie Bewegungen in der Dunkelheit, von denen sie wusste, dass sie nur ihrer Fantasie entsprangen. Es fiel ihr schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie getötet hatte. Es war, als habe sie gleichzeitig einen Teil ihrer selbst erschlagen, der nicht mehr ersetzt werden konnte. Und auch wenn sie sich dessen noch nicht bewusst sein, sie hatte einen Teil ihrer Unschuld in dieser Nacht verloren.
Sie war so sehr damit beschäftigt, sich wieder zu fangen und zu ordnen, dass die folgenden Tage in ihrem Gedächtnis nur sehr verschwommen waren. Sie nahm weder war, wie sie den Wald verließen, noch, was die anderen zu ihr sagten. Nur der große See, den sie zuerst für einen anderen Teil des Meeres gehalten hatte, sollte sie in Erinnerung behalten. Melanon hatte ihr erklärt, dass es sich um einen großen Süßwassersee handelte, aber ihre übliche Begeisterung wollte nicht so recht aufkommen.
Erst, als sie endlich Ronia erreichten, kehrte die ihr neugieriges Ich zurück. Die Bilder der verhängnisvollen Nacht verblassten immer mehr, und sie fing an, Oreas Worten Glauben zu schenken. Sie hatte keine Wahl gehabt. Zumindest keine wirkliche. Sie hatte aus Reflex gehandelt und nicht wirklich gewusst, was passieren würde. Oder wenigstens nicht darüber nachgedacht. Was sie aber am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass sie wohl genauso gehandelt hätte, wenn sie es gewusst hätte. Sie bekam dadurch ein leicht schlechtes Gewissen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass Melanon ihr einfach zu wichtig war, als dass sie ihn hätte verlieren können.
Ihre Reaktion auf Ronia war eine ähnliche wie die auf Erador. Nur aus anderem Grund. Die Stadt war so gar nicht, wie sie es erwartet hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass Ronia wie Erador laut, stickig, eng und schmutzig wäre. Aber dem war nicht so. Keines dieser Wörter konnte auf die Hauptstadt von Caronia verwendet werden. Die Straßen waren breit genug, um vier Wagen nebeneinander Platz zu bieten. Und die Gebäude waren hoch und aus weißem Stein, ein bisschen wie der Tempel der Wassergöttin. Alles war nach einem orthogonalen Netz organisiert, als hätte jemand die Stadt genau so geplant, bevor sie gebaut worden war. Die Straßen waren zwar belebt, aber weil es nicht so eng wie in Erador war, war es auch nicht so laut.
Es stank auch überhaupt nicht, auch wenn die Elfe nicht erkennen konnte, woran es lag. Außerdem gab es Gärten und Parks, die man zwischen den Toren und Mauern erkennen konnte. In ihren wuchsen die verschiedensten Pflanzen, von denen Celia die meisten nicht kannte. Ronia war, und dafür gab es kein anderes Wort, einfach überwältigend. Die Stadt war pompös und schien an nichts zu sparen. Doch Celia wusste genau, dass es ihr hier nicht so gefallen würde, wie in Erador. Wo Erador lebendig und farbenfroh war, auf seine eigene charmante Art und Weise chaotisch und frei, war Ronia künstlich und auf eine merkwürdige Art unehrlich. Alles war so gerade, geordnet und weiß. Tot. Selbst die Gärten waren künstlich, nichts schien so zu wachsen, wie es von Natur aus würde. Alles war kontrolliert. Es war gruselig.
Reda verabschiedete sich, als sie das Händlerviertel erreichten, und Celia war sich sicher, dass sie ihn vermissen würde. Wann immer sie mit Melanon oder Oreas nichts mehr anzufangen gewusst hatte, hatte er sich mit ihr unterhalten oder sie abgelenkt. Sie würden nun weiter zu Melanons Vater reiten, um dort zu bleiben. Für wie lange wusste sie nicht. Sie hatte Angst vor dem Treffen mit dem Mann. Hauptsächlich weil Melanon und Oreas ihm gegenüber sehr reserviert waren und sich weigerten, ihr etwas über ihn zu erzählen. Ob er genauso war wie alles andere in dieser Stadt?
Zu dritt ritten sie weiter in die Stadt hinein. Celia dachte fast, sie würden gar nicht mehr ankommen, als sie schließlich vor einem riesengroßen Tor standen, dass den Durchgang durch die höchste Mauer der Stadt ermöglichen würde.
Die Tore öffneten sich. Melanons Gesichtsausdruck, so fiel Celia auf, wurde härter und verschlossener, als sie jemals erlebt hatte. Es wurde ernst. Er ritt voran, und sie und Oreas folgten ihm, instinktiv blieb sie auf Heria etwas zurück. In dem riesengroßen Gewirr von Mauern und Türen gab es kaum einen Menschen, wie ihr auffiel. Jedes Geräusch, das es in der Stadt noch gegeben hatte, war hinter den Mauern geblieben; die Menschen huschten hin und her, fast als fürchteten sie, zuviel Lärm zu machen. Das Klappern der Pferdehufe auf dem Stein wurde von den Mauern so stark reflektiert. Dass es sich anhörte, als ritten zwanzig Mann zwischen ihnen.
Irgendwie erreichten sie einen Hof, an dessen rechter Seite sich eine Unmenge von Stalltüren befand. Für einen Moment wunderte sich Celia, wie Melanon den Weg zwischen den Mauern mühelos finden, sich aber in Erador verirren konnte. Sie wusste beim besten Willen nicht mehr, wie sie hier her gelangt waren. Alles war so weiß, dass es anfing, in ihren Augen zu brennen. Männer huschten auf sie zu und kümmerten sich um die Pferde und das Gepäck, wieder so leise, dass es ihr unheimlich vorkam. Erst jetzt bemerkte sie die Blicke, die die Männer Melanon zuwarfen. Sie schienen ihn zu respektieren und sahen ihn auf eine Art und Weise ehrfürchtig an. Ronia wurde gruseliger und gruseliger. Etwas stimmte in ihren Augen ganz und gar nicht.
Melanon ging immer noch voraus ins innere eines gigantischen Gebäudes mit einer goldglänzenden Kuppel, auf die Celia aber nur einen Blick werfen konnte. Auch im Inneren war alles weiß, nur gelegentlich fand sich ein Farbtupfer in Form einer Vase oder eines Teppichs. Und es war so unmenschlich still, leer und kalt. Niemand sprach. Celia lief es kalt den Rücken herunter.
Schließlich kamen sie an einer großen Tür an, die von zwei bewaffneten Männern in derselben lächerlich bunten Kleidung bewacht wurde. Jetzt fühlte sich die Elfe erst richtig unwohl und ihr Innerstes zog sich bei dem Gedanken zusammen, was die Männer wohl tun könnten. Doch sie taten nichts, sondern machten nur wortlos den Weg frei.
Oreas und Melanon schienen etwa gleich begeistert von der Aussicht, den dahinter liegenden Raum zu betreten. Nämlich gar nicht. Der Halbelf war sogar noch mürrischer als sonst. Doch trotzdem gingen sie weiter.
Der Raum war bunter als ganz Ronia, stellte die Elfe staunend fest, schien aber ansonsten nach demselben Prinzip gebaut und eingerichtet worden zu sein. Er sollte beeindrucken. Hoch oben waren riesengroße Fenster, von denen Banner mit den verschiedensten Motiven bis auf den Boden reichten. Die Rückwand war komplett von einem Wandteppich mit einem epischen Schlachtmotiv bedeckt, vor dem zwei reich verzierte Stühle auf einem Podest standen. Ein Thron, schoss es ihr durch den Kopf. An den Wänden bei den Bannern standen weitere Bewaffnete.
Weder Oreas noch Melanon beachteten die Verzierungen. Sie blickten starr auf den Thron, oder besser, auf den Mann, der darauf saß. Er bedeutete ihnen mit einem beiläufigen Wink seiner Hand, vorzutreten. Und das taten sie. Celia folgte dem Beispiel ihrer beiden Begleiter und kniete vor dem Podest nieder. Sie wartete.
„Euer Majestät“, grüßte Melanon, und nickte dabei leicht. Seine Miene war zu Stein erstarrt.
„Du bist spät, mein Sohn.“