Kapitel VIII: Erador
Erador war ganz und gar nicht so, wie Celia es sich vorgestellt hatte. Auch, wenn sie im Nachhinein nicht mehr wusste, was sie sich eigentlich vorgestellt hatte. Vermutlich so etwas wie ein größeres Dorf, wie die, die sie bis dahin schon gesehen hatte. Eine Ansammlung brauner, halb verfallener Holzhütten, zwischen denen Tiere und Menschen im Schlamm lebten. Die Wirklichkeit jedoch war meilenweit von ihrer Vorstellung entfernt.
Das erste, was sie an Erador überraschte, war seine Größe. Es war nicht einfach ein größeres Dorf. Wenn sie richtig schätzte, hätten alle Elfen ihres Waldes mehr als genug Platz in der Stadt. Auch wenn sie in dieser Größenordnung kaum vernünftig schätzen konnte. Womöglich würde auch die Hälfte der Stadt für ihr Volk reichen. Erador war einfach ein Superlativ, größer als alles, was sie jemals gesehen hatte. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, wie viele Menschen es geben musste, wenn das hier nur eine von vielen Städten war. Die Elfen waren dagegen eindeutig in der Unterzahl.
Die Größe war aber nicht das einzige, was die Elfe überraschte. Denn gleichzeitig waren die Häuser so gedrängt, dass es auf sie wirkte, als hätte ein Riese versucht, so viele wie möglich auf so wenig Platz wie möglich zu quetschen. Dabei hatte er die Häuser in die unmöglichsten Formen gedrückt und sie waren viel höher, als die Hütten auf dem Land. Ein paar der Häuser sahen so aus, als wollten sie einfach vornüber fallen, während andere so schräg gebaut waren, als hätte ein Blinder die Bauskizze gezeichnet. Celia vermutete, dass eines dieser Häuser alleine, ohne die Stütze der anderen, einfach in sich zusammenfallen würde. Doch da zwischen den Häusern nicht einmal genug Platz für ein Blatt Papier war und teilweise sogar die Straßen überbaut wurden, hielt das Gebilde Stadt aus einem unerfindlichen Grund.
Besonders irritierte die Elfe die Abwesenheit von Pflanzen oder Erde. Die Straßen waren alle gepflastert, so wie die, auf der sie hier her gekommen waren, doch an ihren Rändern standen die Häuser. Sie ließen nicht einmal genug Platz für einige Grashalme.
Überhaupt konnte Celia Erador nur als eng bezeichnen. Ein wenig wie die Höhlen, in denen die Elfen bei Gefahr Zuflucht suchten. Könnte sie nicht den Himmel über sich sehen, würde sie wohl schnellstmöglich die Flucht ergreifen. Die Straßen waren gerade breit genug, um theoretisch zwei nebeneinander fahrenden Wagen Platz zu bieten. Theoretisch. In der Praxis wäre es niemals möglich, da an den Straßenrändern kleine Buden standen und die Menschen immer wieder unvermittelt anhielten und sich mitten auf der Straße unterhielten, ohne auf Passanten zu achten. Die Zustände waren, gelinde gesagt, chaotisch.
Dieser Eindruck wurde noch durch die unglaubliche Vielfalt von allem unterstützt. Es gab so viele Waren, Farben, Menschen und Muster, dass Celia nach den ersten paar Minuten der Kopf schwirrte. Ihre waren bald so mit Reizen überflutet, dass sie kaum noch etwas bewusst wahr nahm. Die Häuser waren in den unterschiedlichsten Farbtönen angestrichen und teilweise mit Mustern verziert. Fast so, als konkurrierten die Menschen darum, wer das schönste Haus besaß. Wirklich, Pflanzen und Tiere waren das einzige, was es nicht im Überfluss zu geben schien. Um diesen Mangel zu kompensieren hatten die Menschen wohl ihre Häuser mit ihnen verziert. Celia erkannte Waldtiere wie Bären, Wölfe und Rotwild, aber es waren auch viele Tiere an den Fassaden zu finden, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und vermutlich würde sie auch keines dieser Tiere jemals sehen. Vor allem nicht in der Nähe der Stadt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur eines von ihnen freiwillig in die Nähe Eradors kommen würde.
Dazu war Erador viel zu laut und zu geruchsintensiv. Die Menschen und ihre Haustiere (es gab sie, aber sie waren in den Häusern, Celia konnte sie nur hören) machten einen für die Elfe unmenschlichen Lärm. Und sie stanken fürchterlich. Es roch nach Schweiß, Dreck und Fäkalien. Nur selten konnte sie angenehmere Gerüche wie Gewürze ausmachen, die stellenweise, besonders in der Nähe von Ständen, aber auch wieder so intensiv waren, dass es unangenehm war. Durch die enge Bauweise blieben alle drückenden Gerüche in der Stadt konzentriert, denn nicht einmal der stärkste Wind konnte den Gestank vollkommen aus den Gassen verdrängen.
Celias Kopf fing an zu schwirren und zu brummen, bis die Kopfschmerzen so stark wurden, dass sie die Stadt nur noch als ein verschwommenes Wirrwarr von Farben, Formen, Gerüchen und Geräuschen wahrnahm. Das einzig Konstante war der Pferderücken auf dem sie saß. Herias Präsenz beruhigte sie und hielt ihren Geist in der Wirklichkeit. Zum Glück schien das kluge Tier zu wissen, was es zu tun hatte und folgte auch ohne Celias geistige Anwesenheit den anderen. Wie konnten die Menschen diese Stadt nur ertragen? Sie würde höchstens ein paar Tage hier bleiben, aber diese Menschen lebten hier. Erador war einfach nur fürchterlich.
Es wurde schon dunkel, als Melanon Celia von der Seite antippte und ihr sagt, dass sie am Ziel waren und hier übernachten würden. Celia seufzte enttäuscht. Schlaf würde sie wohl kaum finden. In dieser Straße war es kaum ruhiger, als in den etwas belebteren, durch die sie noch vor ein paar Minuten geritten waren. Es fehlten lediglich die Stände and den Rändern. Kraftlos ließ sie sich von Heria Rücken gleiten und hielt sich an ihr fest, um nicht umzufallen. Mit einem Mal war es so ungewohnt, festen Boden unter den Füßen zu haben, dass ihre Beine zusammenzuklappen drohten. würde sie nun einen Schritt machen, sie könnte nicht für ihr Gleichgewicht garantieren.
Vor ihr stand ein Haus, das in grün und rot angestrichen und hauptsächlich mit Drachen verziert war. Wie der auf ihrer Kette. Melanon hatte ihr den Namen des komischen Wesens verraten. Ein Schild sagte ihr, dass sie sich hier vor „Cherads Gasthaus“ befand. Auf dem Schild prangte ein großer, idealisierter roter Drachen auf schwarzem Grund. Sie mochte das Haus aus einem unerfindlichen Grund nicht. Es war ihr einfach zu dunkel.
So folgte Celia auch nur zögerlich den anderen auf eine Art Innenhof, der sich hinter einem Torbogen befand. Auf der linken Seite erstreckten sich Ställe. Aus ihnen kamen Stallburschen und führten die Pferde weg. Einer übernahm Redas Wagen. Dann gingen sie gemeinsam zu einer Tür, auf der wieder der rote Drachen vom Schild zu sehen war. Vermutlich handelte es sich um eine Art Wappen, aber das war für Celia noch lange kein Grund, ihn überall hinzupinseln.
Sobald Oreas die Tür aufgestoßen hatte, fühlte sie das dringende Bedürfnis, sich die Ohren zuzuhalten. Sie konnte sich gerade noch zusammenreißen. Im Raum auf der anderen Seite saßen Dutzende um Tische herum und unterhielten sich. Oder besser: Sie brüllten, lallten und einige sagen unerträglich schief. Der Schall wurde dabei immer wieder von den Wänden zurückgeworfen und so verstärkt, dass sich in der Elfe alles zusammenzog. Oreas schien es nicht anders zu gehen. Er verzog angewidert das Gesicht. Reda und Melanon gingen schließlich äußerlich ungerührt voran. Celia überwand sich schließlich auch.
Der Geruch in diesem Haus war mehr als aufdringlich, doch wenigstens roch es nicht nach Fäkalien, wie Celia dankbar notierte. Da es ein geschlossener Raum war, konzentrierten sich aber alle anderen Gerüche. Die Männer (es gab zwar auch ein paar Frauen, aber die meisten Gäste waren Männer) schwitzten und hatte sich sicher seit Jahren nicht mehr gewaschen. Der Schweißgeruch wurde aber noch von dem des Alkohols, des gebratenen Fleisches und der brennenden Holzscheite in den Schatten gestellt.
An einem Tresen blieben sie stehen. Dort wartete ein Mann, der Celia schon auf den ersten Blick unangenehm war. Seine schulterlangen schwarzen Haare waren entweder nass oder fettig und seine braungebrannte Haut wirkte im Lampenschein ledrig. Er musterte sie alle mit einem stechenden Blick, nur um gleich darauf das falscheste Grinsen aufzusetzen, das sie jemals gesehen hatte, und in seinen Augen blitzte Habgier auf. Unbewusste rückte Celia immer näher an Oreas heran und versteckte sich schließlich halb hinter ihm. Der Halbelf ließ sich von dem Mann jedoch nicht beeindrucken und sah ihn nur äußerst genervt an.
„Ah, guten Tag Oreas!“, rief der Mann mit einer übertriebenen und gekünstelten Freude, „Es ist ziemlich lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben! Wie geht’s? Gut hoffe ich doch. Ist—“
„Wir bräuchten Zimmer für die Nacht, Cherad“, unterbrach er ihn hastig.
Der Mann rieb sich die Hände, bevor er eine schwarze Feder in die Hand nahm, sie zwei Mal in sein Tintenfass tunkte und sich über ein aufgeschlagenes Buch beugte. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht.
Abrupt riss er den Kopf wieder hoch und seine Augen richteten sich diesmal direkt auf die Elfe. Sie waren genauso schwarz wie seine Haare, stellte sie fest, und rückte noch ein wenig näher an Oreas heran.
„Teilt sich die Kleine ein Zimmer mit dir?“
Oreas Augenbraue zuckte verdächtig.
„Sie bekommt ein Einzelzimmer.“
„Tatsächlich?“, fragte der Wirt mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme, der Celia noch weniger gefiel. Zum Glück brachte Oreas ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Plötzlich hatte Cherad es dann auch sehr eilig, schrieb etwas in sein Buch, und drückte Oreas im Austausch gegen die kleinen Metallplättchen (Geld) einige Metallobjekte in die Hand. Eines drückte er gleich darauf Celia in die Hand, nahm dann sein Gepäck und verschwand hinter einer anderen Tür.
Celia sah ihm einen Moment lang verdattert nach und dann verwirrt in ihre Hand. An dem Metallstück war ein Holzplättchen mit einer Nummer darauf befestigt. Was bitte sehr sollte sie damit anfangen? Fragend sah sie zu Melanon.
„Melanon, was ist das?“, demonstrativ hob sie das Ding hoch und besah es sich noch mal genauer.
„Ein Schlüssel.“
„Bitte was?“ Manchmal waren seine Antworten wirklich kryptisch, doch dieses Mal war er wohl nur müde von der Reise.
„Komm mit, ich zeig es dir.“
Sie folgte ihm durch die Tür, durch die auch Oreas gegangen war, und dann einige Treppen hinauf.
Wie es sich herausstellte, waren Schlüssel dazu da, Türen abzuschließen, so dass niemand hineinkam. So richtig verstand die Elfe zwar nicht, wozu das nötig war, doch sie folgte trotzdem Melanons Anweisung, immer abzuschließen, wenn sie das Zimmer verließ oder betrat.
Im Grunde genommen war das Ganze einfach. Man steckte einfach das Metallstück mit dem dünnen Ende und den Zacken nach unten in ein kleines Loch unterhalb des Türgriffes und drehte es dann in eine Richtung, bis man einen Widerstand überwunden hatte. Das einzige Problem war es, die richtige Richtung zu finden.
Die Nummer am Schlüssel bezeichnete das Zimmer, wie sich herausstellte, und auf die zu jedem Schlüssel gehörende Tür war ebenfalls eine große Nummer gemalt worden.
Celias Zimmer an sich war klein. Es war gerade genug Platz für ein Bett und ein kleines Tischchen, am dem ein Stuhl stand. Und unter dem Bett befand sich eine Truhe. Die Größe des Raumes hatte die Erbauer aber nicht davon abhalten können, ihn an jeder Ecke zu verzieren. Das Holz von Tisch, Tür, Stuhl, Bett und Truhe war so kunstvoll und minutiös geschnitzt worden, dass Celia ganze Jagdszenen erkennen konnte. Und wieder war alles in verschiedenen Farben angemalt, sogar einige der Balken und der Türrahmen. Zum Glück waren die Wände Natur belassen aus einem merkwürdigen Muster aus Holzbalken und weißer Fläche, das so charakteristisch für Erador zu sein schien.
In der Wand neben dem Tisch gegenüber der Tür befand sich ein kleines Fenster und Celia konnte nicht widerstehen, hinauszusehen. Die vergleichsweise frische Luft (immerhin, lag ihr Zimmer so hoch, dass es nicht allzu sehr stank, tat ihr gut und vertrieb ihre Kopfschmerzen ein wenig. Unter ihr lag die Straße, die um diese Zeit zum Glück fast ausgestorben war, und sie konnte über die Dächer einiger anderer Häuser sehen. So betrachtet war Erador gar nicht so schlimm. Bei Nacht konnte es ihr fast gefallen. Es war um Welten stiller und weniger chaotisch. Als würden ihr gar nicht so viele Menschen leben. Nur die Gäste unten machten immer noch unverändert Lärm.
Celia konnte sich gerade noch dazu aufraffen, im Kerzenlicht alles aufzuschreiben, bevor sie sich ins Bett legte und das Kissen über ihren Kopf legte. wäre sie nicht so erschöpft gewesen, sie hätte wohl die ganze Nacht wach gelegen, aber so fiel sie irgendwann in einen unruhigen Schlaf voller bunter Bilder, unangenehmer Gerüche und Lärm. Sie merkte nicht einmal mehr, wie es auch unten langsam leiser wurde und sich auch die letzten Bewohner der Stadt endlich zur Ruhe begaben.
*
Am nächsten Morgen wachte Celia auf, lange bevor Melanon an ihre Tür klopfte und sie zum Essen rief. Irgendwann, als es zu dämmern begann, wurde es einfach zu laut, um weiter zu schlafen. Aber da sie immer noch unendlich müde war, blieb sie einfach liegen und lauschte dem Treiben auf der Straße. Während es unten im Haus im Vergleich zum Abend noch recht ruhig war, herrschte auch der Straße schon reges Treiben. Ein Stück weiter hinunter pries ein Verkäufer seinen Fisch so lautstark an, dass sie ihn selbst bei geschlossenem Fenster noch ausgezeichnet verstehen konnte. Ansonsten wurde die Geräuschkulisse von einem einlullenden Zusammenspiel aus Klappern, Rumpeln und Ratschen bestimmt.
Als sie sich dann schließlich doch von dem beinahe hypnotischen Lärm löste und Melanon nach unten folgte, war sie immer noch hundemüde und ununterbrochen am Gähnen. Im hinteren Teil des Gasthauses setzte sie sich zu den anderen an einen Tisch und sie bestellten zusammen ihr Frühstück. Melanon bestellte für sie mit, wofür sie sehr dankbar war, da sie nicht wusste, ob sie schon wach genug war, um etwas verständliches herauszubringen. Melanon selber gähnte auch noch hin und wieder und Oreas hatte deutliche Ringe unter den Augen. Allein Reda schien schon hellwach zu sein.
Das Essen selbst war, nun ja … fett. Viel zu fett. Aber die Elfe würgte es trotzdem herunter. Wahrscheinlich hätte es gar nicht so schlecht geschmeckt, wenn die Eier und der Speck nicht so furchtbar triefen würden. Nicht, dass sie der Ansicht war, dass man Speck schon so früh am Morgen essen sollte. Nein, wirklich nicht. Zu ihrer Erleichterung war sie aber nicht die einzige, die mit ihrem fettigen Essen zu kämpfen hatte. Oreas schob sein Essen mehr auf dem Teller herum als er aß und Melanon machte auch nicht unbedingt ein genießendes Gesicht. Das erklärte wohl auch, warum es bei den beiden immer nur Brot und Käse gegeben hatte.
„Was habt ihr heute vor?“, fragte Reda völlig unvermittelt.
Celia blinzelte ein paar Mal, bis die Bedeutung der Wörter zu ihr durchdrang. Eine Antwort hatte sie trotzdem nicht. Sie wusste ja nicht, was man in einer Stadt so machte.
„Ich muss einen Brief an meinen Vater abschicken, um ihm zu sagen, dass ich mich verspäte“, Melanon zeigte ihnen ein gefaltetes Blatt Papier.
„Ich habe auch etwas zu tun“, brummte Oreas, auskunftsfreudig wie immer.
Mit einem Mal war Celia hellwach und hatte fürchterliche Angst. Sie wollte nicht alleine bleiben, nicht in einer Stadt, mit so vielen Menschen, wo sie niemanden kannte. Und zu allem Überfluss fiel ihr Blick just in diesem Moment auf Cherad, der sie schon wieder so schleimig angrinste. Sie wollte am liebsten einfach wieder in ihr Zimmer und es für den Rest des Tages nicht mehr verlassen.
Zum Glück zerstreute Melanon ihre Ängste schon Sekunden später, indem er ihr anbot, ihn zu begleiten. Er wollte nur vorher zur Post, um den Brief abzuschicken, meinte aber, das würde nicht lange dauern.
Die Post, so fand Celia, war atemberaubend. Alleine die Vorstellung, Briefe schnell und über große Distanzen zu verschicken … Melanon musste ihr alles haarklein erklären, während sie darauf warteten, dass Melanon an der Reihe war, für die Beförderung zu bezahlen. Außerdem beobachtete die Elfe die verschiedenen Menschen. Eine Frau wollte zum Beispiel einen Brief an ihren Neffen in Ario schicken. Da sie aber nicht das genaue Stadtviertel benennen konnte, wollte der Mann den Brief nicht annehmen, bis sie ihn schließlich doch dazu überreden konnte. Der Brief wanderte dann in den blauen Kasten an der Wand hinter ihm. Als der Mann Melanons Brief entgegennahm, runzelte er kurz die Stirn und schien, als wollte er etwas sagen. Doch er überlegte es sich anders und nickte nur zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Der Brief wurde einfach in den grünen Kasten gesteckt, der mit Abstand größte.
Nachdem sie Melanons Brief abgeschickt hatten, ließ er sich von Celia dazu breitschlagen, ans Meer zu gehen. Schon, als sie das erste Mal einen Blick auf die große blaue Fläche geworfen hatte, war sie begeistert gewesen und hatte es unbedingt aus der Nähe sehen wollen. Vermutlich lag das an der endlosen Weite, die nur gelegentlich von Schiffsmasten durchbrochen wurde.
Im ersten Moment wunderte sie sich, dass das Meer bei genauerer Betrachtung gar nicht blau war, sondern dieselbe Farbe wie das Wasser der Teiche und Flüsse hatte, die sie bis dahin gesehen hatte. Melanon hatte sie an den Rand der Stadt geführt, wo es einen ausgestorbenen Sandstrand mit einem Steg gab, an dem einige Boote lagen und auf dem sie saßen. Während die Elfe die kleinen Tiere am Grund des Meeres beobachtete, erklärte Melanon ihr, dass das Meer nur blau schien, weil sich der Himmel darin spiegelte und dass es weiter draußen noch um einiges tiefer wurde.
Einen weniger offensichtlichen Unterschied zwischen Meer- und Seewasser stellte Celia dann aber fest, als sie Durst bekam und etwas trinken wollte. Sie streckte einfach ihre Hände aus und trank etwas vom Wasser. Infolgedessen konnte Melanon minutenlang nicht aufhören zu lachen und Celia konnte nicht anders, als angewidert das Gesicht zu verziehen. Igitt, war das salzig. Sie schüttelte sich, und sah Melanon vorwurfvoll an.
„Du hättest mich warnen können!“
Melanon lachte einfach weiter, und Celia stimmte mit ein, nachdem sie den widerlichen Geschmack losgeworden war.
Als sie sich beide wieder beruhigt hatten, gingen sie zum Hafen, wo Melanon ihr die großen Schiffe mit ihren weißen Segeln zeigte. Celia war begeistert. An den Vorderseiten waren die verschiedensten Figuren angebracht (mit Vorliebe die Oberkörper nackter Frauen) und sie waren noch bunter als die Häuser von Erador. Auch die Seeleute waren in ihren Augen etwas sehr Besonderes. Einerseits waren sie ihr ein bisschen unheimlich (nicht so schlimm wie Cherad, aber doch unheimlich), andererseits waren sich auch interessant. Ihre Haut war unglaublich braun und sie trugen viele bunte Tücher und andere Kleidungsstücke, die die Elfe noch nie gesehen hatte. Dazu roch der gesamte Hafen nach Gewürzen, Fisch und Salz.
Am Nordende des Hafens schließlich zeigte Melanon ihr ein großes Gebäude, dass sich eindeutig von allen anderen unterschied. Es war weder aus den merkwürdigen Holzbalken noch aus Brettern gemacht. Es war aus Stein und viel schlichter als die anderen. Und es war das erste Gebäude in Erador, das nicht so wirkte, als hätte man es zusammengequetscht. Der Eingang war von hohen weißen Säulen gesäumt und der Giebel war mit Statuen und ein klein bisschen blauer Farbe verziert. Außerdem schien es das einzige Gebäude in der gesamten Stadt zu sein, um das herum keine anderen Häuser standen. Es erinnerte sie an die überreste des Elfenpalastes.
Melanon erklärte ihr, dass es ein Tempel für die Wassergöttin war, der die Menschen dort opferten, um eine sichere Reise zu erwirken. Was dann folgte, war eines der merkwürdigsten Erlebnisse, die sie bis dahin gemacht hatte. Sie folgte Melanon in den Tempel, wo er Kerzen anzündete und stumm Wörter vor sich hin sagte. Dabei sah er unverwandt die Statue einer nur halb bekleideten, alterslosen Frau mit langen wallenden Haaren an. Im Tempel selbst war es, verglichen mit dem Rest der Stadt, totenstill. Eigentlich ein Wunder, denn durch die unglaublich hohe Decke und den riesigen Raum, in dem sie sich befanden, hallte jeder Schritt wieder. Nur die gedämpften Straßengeräusche und das Rascheln von Gewändern war zu hören. Es war Celia wirklich unangenehm und sie fühlte sich furchtbar fehl am Platz. Das hier war nicht ihre Welt, das wurde ihr schlagartig bewusst. In diesem steinernen leblosen Gebäude war alles so vollkommen anders, als im Wald. Es war kalt. Sogar im Lärm und Gewühl von Erador fühlte sie sich wohler. Immerhin hatte die Stadt einen eigenen Rhythmus, der ihr eine bizarre Lebendigkeit verlieh.
Für alle anderen Menschen schien die Stimmung im Tempel aber vollkommen normal zu sein. Da fiel ihr auf, dass die meisten Gestalten die gleichen grauen Kutten wie Melanon trugen. Sie hatte sonst noch niemanden mit dieser Kleidung gesehen. Das waren also andere Magier. Warum sie wohl alle in dem Tempel waren und nicht in den Straßen?
Nach dem Tempelbesuch gingen die beiden wieder zurück in die Innenstadt. Es war bereits weit über die Mittagszeit hinaus und so beschloss Melanon, dass es an der Zeit war, etwas zu essen zu kaufen. Die Wahl des Straßenimbisses (es gab unglaublich viele) überließ er aber Celia. Sie hatte zwar noch nicht wirklich Hunger, entschied sich dann aber doch für einen kleinen Stand, an dem es besonders gut roch. Das Mittagessen schmeckte ihr dementsprechend auch wesentlich besser als das Frühstück. Es war nicht so fett und sie stellte fest, dass sie gebratenen Fisch (laut Melanon war es einer mit acht Armen, der Tinte spucken konnte, aber das kaufte sie ihm nicht wirklich ab) wesentlich lieber mochte als Fleisch. Vielleicht lag das aber auch an der Soße.
Den Nachmittag verbrachten sie schließlich wieder auf dem Steg am Strand, wo Melanon Celia dabei helfen musste, alles über das Meer, Schiffe und Fische aufzuschreiben. Dabei versicherte er ihr wiederholt, dass es die komischen Fische mit den acht Armen wirklich gab und zeichnete ihr sogar ein Bild. Als sie sich kurz vor Sonnenuntergang auf den Rückweg machten, war sie immer noch nicht fertig. Vor allem musste sie noch ihre Eindrücke aus dem Tempel aufschreiben, aber das wollte sie aus irgendeinem Grund alleine, ohne Melanons Erläuterungen.
Im Gasthaus angekommen wurden sie wieder von Cherads widerlichem Grinsen und furchtbarem Lärm begrüßt. Celia lief es kalt den Rücken herunter. Oreas und Reda warteten wieder an einem Tisch in der hinteren Ecke. Ersterer war aus unerfindlichem Grund furchtbar schlecht gelaunt und letzterer sichtbar müde, aber Celia ließ sich trotzdem nicht davon abhalten, von ihrem aufregenden Tag zu erzählen. Den Tempel behandelte sie aber nur am Rande, weil sie immer noch nicht wusste, was sie davon halten sollte. Und schließlich wollte sie auch niemanden verletzten.
Erst, als sie am Abend wieder im Bett lag, wurde ihr bewusst, wie sehr der Tag sie angestrengt hatte, auch wenn sie das durch ihre Aufgedrehtheit verdrängt hatte. Einen Vorteil hatte das allerdings: in ihrer zweiten Nacht in Erador schlief sie wesentlich besser und sie musste sich wohl oder übel eingestehen, dass die Stadt doch nicht so schlimm war, wie sie zu Anfang gedacht hatte. Genau genommen hatte es ihr sogar gefallen, und langsam lernte sie auch, den Lärm und den Gestank auszublenden.
*
An den folgenden Tagen schloss Celia sich nicht Melanon oder Oreas an. Genau genommen wusste sie nicht einmal, was die beiden den ganzen Tag trieben. Oreas hatte seit dem ersten Tag gar nichts mehr gesagt und war einfach jeden Morgen verschwunden und am Abend wieder aufgetaucht. Celia akzeptierte sein Verhalten inzwischen einfach schulterzuckend. Das war eben Oreas. Melanon hingegen hatte etwas von alten Bekannten gemurmelt und da wollte sie ihn nicht mit ihrer Anwesenheit belästigen. Sie hatte das Gefühl, dass er das lieber alleine machen wollte.
Also hatte sie sich Reda angeschlossen und ihm beim Verkauf seiner Stoffe geholfen. Nun ja, eigentlich stutzte sie nur die Stoffe und half beim Tragen. Der Händler hatte ziemlich schnell festgestellt, dass Celia das kaufmännische Talent einer Fünfjährigen besaß. Sie konnte weder den Wert der Stoffe richtig einschätzen (sie wusste gerade mal, dass Seide mehr wert war als Baumwolle), noch konnte sie mit Geld umgehen (schließlich hatte sie keine Vorstellung davon, wie viel welche Münze wert war) oder mit den Kunden feilschen. Reda hatte es sie einmal versuchen lassen, aber nachdem ein paar Minuten mit einem anderen Kunden beschäftigt war, hatte sie ein paar Meter Leinen praktisch verschenkt. Doch da die Elfe Aufmerksamkeit auf seinen Stand lenkte, verkaufte er mehr seiner Ware als gewöhnlich, und das rechnete er ihr hoch an.
In den Pausen sah Celia sich am liebsten die Schausteller an und aß dabei irgendein Fischgericht (sie hatte festgestellt, dass es nicht an der Soße lag, dass sie ihn bevorzugte). Gelegentlich sah sie sich auch die Auslagen der anderen Händler an (bei einem Fischhändler fand sie dann heraus, dass Melanon nicht gelogen hatte und es die achtarmigen Tintenfische wirklich gab). Aber die Schausteller, die ihre Bühne auf einem kleinen Platz in der Nähe von Redas Stand aufgebaut hatten, waren ihre Favoriten. Sie führte alles auf, was die Elfe sich vorstellen konnte. Von akrobatischen Kunststücken und Musik bis hin zu den verschiedensten Theaterstücken. Zugegeben, das Programm war nicht immer anspruchsvoll, aber es beeindruckte oder brachte sie zum Lachen. Besonders die Schauspiele hatten es ihr angetan. Die Komödien unterschieden sich von allem, was Celia aus dem Wald gewöhnt war. Die Elfen kannten hauptsächlich Gedichte und Lieder, und erst recht nichts Komisches. Die Stücke hatten so also auch einen bildenden Wert. Sie brachten ihr viel über die gesellschaftlichen Strukturen und Werte bei, auch wenn das sicher nicht die Absicht der Autoren war. Manchmal zeigten sie auch Stücke, in denen die aktuelle politische Situation behandelt wurde (der König wurde als vom Gold besessener Schwachkopf dargestellt), die offenbar mehr als angespannt war.
Reda musste seine Hilfskraft jedes Mal zum Stand zurückziehen, weil sie immer die Zeit vergaß, wenn sie den Charakteren in ihre geschriebenen Welten folgte oder den Jongleuren bei ihren Kunststücken zusah. So blieb dann auch ein guter Teil des Geldes, das Celia bei Reda verdiente, bei den Schaustellern. Der Händler hatte darauf bestanden, sie zu entlohnen, auch wenn er meinte es wäre nicht viel. Die Elfe wusste natürlich nichts mit dem Geld anzufangen, geschweige denn, wie viel sie wirklich besaß, und so gab sie das meiste einfach den Menschen, die es ihrer Meinung nach verdienten. Nur einen Teil behielt sie selber. Für den Notfall.
Celia hatte ein paar Mal mit sich gerungen, hatte dann aber doch nicht den Mut gefunden, einen der Schausteller anzusprechen. Dabei hätte sie wirklich gerne mit ihnen über ihre Stücke geredet. Aber jedes Mal, wenn sie es vorhatte, hatte sie das Gefühl, man würde sie auslachen, wenn sie es versuchen würde. Wenigstens hatte sie am Ende ihres Aufenthaltes in Erador genug Selbstsicherheit gefunden, um alleine durch die Stadt zu gehen. Ohne, dass sie die Nähe von Oreas, Reda oder Melanon brauchte. Sie hatte nicht mehr länger Angst, dass einer der Menschen sie verletzten würde. Die meisten starrten sie nur an, ignorierten sie oder wollten ihr etwas verkaufen. Sie stellte auch fest, dass sie sich hier viel leichter orientieren konnte, als zwischen den Hügel auf dem Land. Melanon hatte sogar zugegeben, dass er sich in dem Straßengewirr öfter verirrte, aber Celia machte das gar keine Probleme.
Auch wenn sie immer noch der Ansicht war, dass Erador laut und stinkig war, sie würde die Stadt irgendwie doch vermissen. Die urigen Häuser und die Vielfalt hatte sie zu schätzen gelernt, und auch an das Chaos und Gewimmel hatte sie sich gewöhnt. Alles, was sie nun noch brauchte, waren Ohrstöpsel und eine Nasenklammer.