Kapitel V: Alltag
Entgegen ihrer Erwartungen gewöhnte Celia sich schnell an das Leben auf Oreas’ Hof. Sie half beim Füttern der Tiere und im Haushalt. Bei der Arbeit kamen ihr immer mehr Fragen und ihre neugierige Seite gewann wieder die Oberhand über ihre ängstliche. In Melanon fand die Elfe einen geduldigen Lehrer, der ihr alles so lange erklärte, bis sie zufrieden war. Er erzählte ihr auch von den verschiedenen Tieren, die auf dem Hof lebten und wozu sie gehalten wurden. Außerdem brachte er ihr bei, wie sie ihre Arbeit zu verrichten hatte. Besonders amüsant für beide war Melanons Kochunterricht. Gleich am zweiten Tag hatte Celia ihn gebeten, es ihr beizubringen. Das einzige Problem (und nebenbei auch das, was den „Unterricht“ so interessant machte) war die Tatsache, dass Melanon selbst nie wirklich kochen gelernt hatte und nur in der Lage war, sehr einfache Sachen zu machen. Also entschieden sie sich, einfach mit den Zutaten zu experimentieren. Die Ergebnisse waren teilweise sogar essbar und die beiden konnten sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gelacht hatten. Nur Oreas rümpfte jedes Mal verächtlich die Nase, wenn er das Chaos in der Küche sah.
Melanon seinerseits hatte auch einige sehr spezielle Fragen über die Elfen, die Celia sehr erstaunten. Er wollte jedes noch so kleine Detail über bestimmte Zeremonien wissen, die manchmal nicht einmal Celia kannte, und dabei hatte sie sich als Prinzessin sehr stark mit den Elfentraditionen beschäftigen müssen (nicht, dass sie deswegen jemals wirklich aufmerksam gewesen wäre). Viel mehr als seine Fragen überraschte sie jedoch, dass er alles, was sie ihm erzählte, sehr gut behielt. Als sie ihn schließlich darauf ansprach, lachte er nur und sagte, er sei es gewohnt, viel auswendig zu lernen und habe schließlich schon mit anderen Elfen zu tun gehabt, die ihm einiges erklärt hätten.
Die beiden verstanden sich wirklich außergewöhnlich gut. So gut, dass Melanon sich sogar bereit erklärte, Celia bei ihrem Reisebericht zu helfen. Er sagte ihr die Namen der Vögel und Pflanzen, die sie bis dahin schon gesehen hatte und fügte Informationen über sie hinzu. Die runden Scheiben, die die Elfe für Talismane gehalten hatte, stellten sich dann auch als „Geld“ heraus, etwas, das die Menschen gegen alle möglichen Dinge einzutauschen pflegten. Noch leuchtete der Elfe dieser Brauch nicht ein, aber Melanon versicherte ihr schmunzelnd, dass er seinen Nutzen habe.
Irgendwann kam das Gespräch auf ihre Familien. Celia seufzte nur und erzählte schließlich von ihrer Mutter und Großmutter, die so große Erwartungen als Prinzessin in sie steckten und die sie einfach nicht verstanden. Von ihren Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, die auch nicht besser waren. Und von ihrem „besten Freund“ Selion, der versuchte, sie in eine Form zu zwängen, in die sie nicht passte. Ihren Vater erwähnte sie nicht, und Melanon war sensibel genug, um zu erkennen, dass es besser war, dieses Thema nicht anzuschneiden. Irgendwie spürte er, dass es ein wunder Punkt der Elfe war, außerdem war das bei ihm nicht unbedingt anders.
Celia verstand dieses Verhalten selbst nicht so recht. Sie vertraute Melanon wirklich, aber etwas in ihr wollte einfach nichts über den Verbleib ihres Vaters herausfinden. Noch nicht. Und möglicherweise hätte er ihr erzählen können, was mit ihm geschehen war. Sie wollte das Risiko einfach nicht eingehen, wollte nicht erfahren, dass ihr Vater tot war. Sie zog die Illusion der Realität vor.
Wann immer Celia ihrerseits versuchte, etwas über Melanons Vergangenheit aus ihm herauszukitzeln, wich er aus oder antwortete nur sehr vage. Schließlich gab sie einfach auf, denn der traurige Ausdruck, der sich bei diesem Thema immer auf das Gesicht des Menschen legte, war ihr nicht entgangen. Immerhin besaß sie genug Taktgefühl, ihn nicht noch mehr zu verletzen.
Oreas hingegen war ein ganz anderer Fall. Celia bekam ihn praktisch nie zu Gesicht und sie hatte eine mehr als leise Ahnung, dass er ihr mit Absicht aus dem Weg ging. Die meiste Zeit verbrachte er bei den großen Tieren, die laut Melanon „Pferde“ genannt wurden und die Celia schon des Öfteren gesehen hatte, wenn die Wagen der Menschen durch den Wald fuhren. Pferde dienten nämlich als Zug- oder Reittiere. Alleine der Gedanke auf einem Tier zu sitzen gruselte die Elfe. Tat das den Armen denn nicht weh?
Oreas jedenfalls schien diese Wesen zu lieben und war den ganzen Tag im Stall oder auf der Weide (ein Haus für Tiere und eine Grasfläche) und kümmerte sich um sie. So bekam Celia ihn nur morgens oder abends bei den Mahlzeiten zu Gesicht. Und bei diesen Gelegenheiten ignorierte er sie vollkommen. Er sah sie nicht einmal mehr giftig an. Dabei hätte Celia nur zu gerne mit ihm gesprochen, ihn über seine Eltern und die anderen Elfen ausgefragt, aber sie brachte es nicht fertig, sich wenigstens zu entschuldigen.
Und dabei wollte sie sich wirklich entschuldigen. Es tat ihr leid, ihm diese Frage gestellt zu haben, aber die Antwort hatte sie noch mehr verwirrt. Melanon hatte ihr schließlich erklärt, dass Halbelfen nicht gerade gerne gesehen waren, dass es noch einige anderen Elfenstämme neben den Waldelfen gab, die Oreas, ebenso wie die Menschen, schlecht behandelt hätten und dass er die Elfen unter anderem deswegen hasste. Warum noch wollte er ihr nicht verraten. Er sagte nur, sie sollte besser mit Oreas darüber reden. Doch der ignorierte sie ja.
Also versuchte Celia immer wieder, ihn anzusprechen, allerdings vergeblich, sie brachte einfach nicht den nötigen Mut auf. Sie warf ihm nur immer wieder unsichere Blicke zu, wenn er neben ihr am Tisch saß.
Nach ein paar Tagen beschloss sie dann aber doch endlich, mit ihm zu reden. So konnte es schließlich nicht weiter gehen. Und diesmal sollte er ihr auch nicht ausweichen können. Also ging sie mit schnellen Schritten zum Pferdestall, öffnete die Tür und machte sie dann so schnell es ging wieder hinter sich zu, damit sie auch ja nicht auf die Idee kommen konnte, doch noch einen Rückzieher zu machen. Oreas war der laute Knall natürlich nicht entgangen und so starrte er Celia nun wieder mit diesem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an, der dieses Mal aber noch etwas fragend war. Und plötzlich herrschte in Celias Kopf nur noch eine gähnende Leere. All sie sorgfältig zurechtgelegten Worte waren vergessen. Der einzige Gedanke, der ihr bei dieser Nervosität noch kam, war wieder einmal die Frage, wie er es schaffen konnte, sie derart zu verunsichern.
Irgendwann wurde es Oreas dann aber doch zu bunt, unentwegt angestarrt zu werden. Oh, wie er diese Blicke hasste! Dabei sollte man eigentlich meinen, er habe sich nach achtzehn Jahren daran gewöhnt.
„Was willst du?“, die Stimme war kalt und hart wie gewöhnlich.
Celia zuckte zusammen und konzentrierte sich wieder auf ihr Vorhaben.
„Ich … ich … ich wollte mich … entschuldigen, … dafür, dass ich überhaupt gefragt habe … und dass ich dich mit meiner Anwesenheit belästige“, stammelte sie mühsam hervor, aber wenigstens war es nun endlich raus.
Oreas hatte schon nach den ersten Wörtern wieder seinem Pferd zugewandt und striegelte es. Celia ignorierte er. Wollte er doch gar nicht hören, was sie zu sagen hatte, aber dann musste sie ja unbedingt weitersprechen und er konnte ihre Worte nicht einfach ausblenden.
„Und dann, weißt du, tut es mir furchtbar leid, dass alle immer so gemein zu dir sind. Dafür gibt es doch keinen Grund.“
So, jetzt war es raus. Blieb nur noch abzuwarten, wie Oreas es aufnahm. In dem kochte nach den letzten Wörtern die Wut hoch und in seinen Ohren begann es zu klingeln. Was bildete dieses Mädchen sich ein?! Seine Hand striegelte schon längst nicht mehr, sondern umklammerte die Bürste so hart, dass es weh tat und die Knöchel unnatürlich weiß hervorstanden. Das Pferd spürte seine Unruhe und tänzelte nervös hin und her.
„WAS GLAUBST DU EIGENTLICH, WER DU BIST?! ICH BRAUCHE DEIN MITLEID NICHT, ELFE!“, schrie er ihr wutentbrannt ins Gesicht.
Er war tiefrot angelaufen und stürmte so schnell es ging aus dem Stall, die Bürste immer noch fest umklammert und knallte sie Tür hinter sich zu.
Zurück blieb eine geschockte Celia, die wie vom Donner gerührt mit leicht geöffnetem Mund (Wollte sie nicht noch etwas erwidern?) an die Stelle starrte, an der bis vor kurzem noch Oreas gestanden hatte. Erst nach ein paar Minuten weckte ein leises Wiehern sie aus ihrer Trance und so schnell es ging stürmte auch sie aus dem Stall in ihr Zimmer. Den verdutzten Melanon übersah sie dabei. Sie wollte nur vermeiden, Oreas je wieder über den Weg zu laufen.
Und sie wollte alleine sein. Es war ihr zwar ein Rätsel, wie er es geschafft hatte, aber Oreas hatte sie zutiefst verletzt. Also legte sie sich einfach auf ihr Bett und weinte in ihr Kissen.
Als sie irgendwann Melanons Hand spürte, die ihr beruhigend über den Rücken strich, war ihr erster Impuls dann auch, sie einfach wegzustoßen. Sie ließ es dann aber doch zu. Schließlich meinte er es nur gut mit ihr, sie würde ihm unrecht tun, würde sie ihre schlechte Laune an ihm auslassen. Und zugegeben, es beruhigte sie wirklich, bis ihr nur noch hin und wieder schluchzte.
„Oreas kann manchmal ein echtes Arschloch sein, ich weiß“, erklärte Melanon ihr „aber eigentlich ist er wirklich nett. Es sind bloß … Dinge vorgefallen, von denen du nichts weißt, und ich kann sie dir auch nicht erzählen, das ist alleine seine Sache und ich habe nicht das Recht dazu. Versuch bitte, ihm zu verzeihen. Wenn du jetzt wütend bist, macht es die Sache auch nicht besser.“
„Ich bin aber nicht wütend“, schluchzte Celia.
„Bloß …“, ja, was war sie eigentlich? Warum weinte sie sich nur die Augen aus? Sie hatte gehofft, sich durch ihre Entschuldigung doch noch mir Oreas anfreunden zu können, sie mochte den Halbelfen auf irgendeine nicht genauer zu definierende Art. Nur deshalb hatten seine Worte sie so verletzt.
„Bloß enttäuscht“, fügte sie noch hinzu.
Darauf wusste Melanon nichts mehr zu erwidern. Er blieb noch eine Weile und tröstete die Elfe, unterhielt sich mit ihr über verschiedenes, verließ sie dann aber schließlich, um das Essen vorzubereiten.
*
Celia wollte eigentlich gar nichts essen, aber Melanon hatte sie dazu genötigt. Als sie den Raum betrat, fiel ihr als erstes Oreas in Auge, der schon am Tisch saß. Sie hatte befürchtet, er würde sie wieder anschreien, aber dem war nicht so. Er ignorierte sie einfach. Nicht einmal die kleinste Regung hatte er gezeigt, als sie eingetreten war, fast als würde sie nicht existieren.
So wurde das Abendessen dann auch eine schweigsame Angelegenheit. Oreas war wütend, auch wenn er es nicht zeigte, Celia ängstlich und verletzt und Melanon traurig über das Verhalten der beiden. Die drückende Stimmung konnte man fast schon körperlich spüren und alle Anwesenden wollten es so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Gerade, als sie mit dem Abräumen beginnen wollten, räusperte Melanon sich und erlangte so die Aufmerksamkeit des Halbelfen und der Elfe. Mit fragenden Blicken in seine Richtung setzten sie sich wieder.
„Ich werde morgen früh weiterreisen.“
Ein Satz, kurz und bündig, kein Gerede um den heißen Brei. Melanon hatte die ganze Zeit nicht aufgesehen und sein Blick blieb weiter gesenkt.
Celias Augen weiteten sich vor Überraschung. So schnell schon? Obwohl, es hätte ihr eigentlich klar sein müssen, dass es nicht ewig so hätte weitergehen können. Melanons Angebot kam ihr wieder in den Sinn. Sie konnte mit ihm reisen oder er würde sie zurückbringen. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die sie schon die letzten Tage einfach aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatte. Am ersten Abend hatte sie geglaubt, sich bereits im Klaren über ihre Antwort zu sein, doch dem war nicht so. Einerseits hatte sie immer noch Angst vor den Menschen, aber andererseits hatte sie in der kurzen Zeit eine tiefe Freundschaft zu dem Menschen aufgebaut. Tiefer als alle anderen Freundschaften, die sie je geschlossen hatte (nicht, dass es viele gewesen wären). Er verstand sie so gut, wie niemand sonst. Er teilte ihren Wissensdurst, und wenn sie ehrlich war, wollte sie ihn nicht wieder verlieren.
Während die Elfe in Gedanken war, hatte Melanon begonnen, den Tisch abzuräumen. Oreas saß auch immer noch wie betäubt am Tisch und starrte selbstvergessen in die Leere. Erst, nachdem Melanon schließlich den Raum verlassen hatte, tauchte er wieder aus seiner Trance auf und ging ebenfalls seiner Wege.
Celia blieb noch sitzen, bis ihr einfiel, dass sie so oder so am nächsten Morgen den Hof verlassen würde und sie noch ihre Sachen zusammensammeln musste (das Papier lag ungeordnet auf dem Tisch). Auch der Gedanke, den Hof zu verlassen tat ihr weh. Sie hatte ihn und seine Tiere wirklich lieb gewonnen. Sogar Oreas, auf diese unbeschreibbare Art. Sie fühlte sich ihm irgendwie verbunden. Wie es wohl für ihn sein würde, wieder ganz alleine zu sein? Der Gedanke tat ihr weh. Sie konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass er ohne jede Gesellschaft glücklicher war.
Mit einem Seufzer ließ sie sich nach dem „Packen“ (nicht, dass sie außer dem Papier Sammelsurium noch etwas zu packen hatte) auf ihr Bett fallen. Weitermachen oder zurückkehren? Was ihre Familie wohl sagen würde, wenn sie wieder zurückkäme? Wahrscheinlich, dass sie es ihr doch gleich gesagt hatten. Den Triumph, sie ohne jeden Erfolg zurückkommen zu sehen, wollte sie ihnen nicht gönnen. Aber gab es überhaupt Aussicht auf Erfolg? Außerdem war es gefährlich weiterzugehen. Auch wenn Melanon ihr viel über die Menschen erzählt hatte, die Gefahr, die von ihnen ausging, konnte sie immer noch nicht abschätzen.
Celia überlegte weiter hin und her und wog Risiko und Sicherheit gegeneinander ab, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie schlief darüber ein. Die Schritte im Nebenzimmer bemerkte sie nur am Rande, während sie langsam in einen traumlosen Schlaf hinüberglitt.
Und eigentlich hatte ihr Herz die Entscheidung schon längst getroffen.