Kapitel IV: Abendliche Gespräche
Als Melanon schließlich aufwachte, brauchte er erst etwas Zeit, um zu realisieren, wo er sich befand. Nur langsam drangen die Erinnerungen an die letzte Nacht zu seinem Bewusstsein durch. Die Elfe, das Dorf und der lange Ritt durch die Nacht. Er lag immer noch auf dem Bauch, genauso, wie er sich auch hingelegt hatte. Eigentlich war diese Position ausgesprochen unbequem, doch er war zu müde, sich anders hinzulegen oder auch nur die Augen zu öffnen. Er hoffte, wenn er sich nicht bewegen würde, würde er einfach wieder zurück in den erholsamen Schlaf driften. Er wollte noch nicht denken oder sich mit seinen Problemen beschäftigen, sondern sie einfach nur im Schlaf vergessen, von sich fort schieben und sie nur noch ein bisschen länger ignorieren.
Doch seine Hoffnungen erfüllten sich nicht. Stattdessen wurde er immer wacher und bald hatte er den Punkt erreicht, an dem es ihm nicht mehr möglich war, wieder einzuschlafen. Also stemmte er sich hoch und öffnete die Augen, den Protest seines Rückens und seiner Arme ignorierend. Der Raum war nur schwach von dem rötlichen Licht erleuchtet, der durchs Fenster schien. Es musste also Abend sein. Das Fenster zeigte nach Westen. Erstaunlich, an war für Dinge er sich erinnerte, auch wenn er schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr in diesem Zimmer gewesen war.
Melanon schwang die Beine vom Bett und setzte sich in eine beinahe aufrechte Position. Er verzog das Gesicht. Die Haltung war wirklich ausgesprochen unbequem gewesen. Sein Rücken war furchtbar verspannt und auch der lange Ritt hatte ihn strapaziert. Er hatte Muskelkater. Das war auch eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, wie lange er die Elfe in den Armen gehalten hatte.
Mit einem letzten herzhaften Gähnen stand er schwerfällig auf und streckte sich erst einmal ausgiebig. Die verspannten Muskeln lockerten sich zwar ein wenig, schmerzten aber immer noch leicht. Vielleicht wurde er einfach nur zu alt für solche Aktionen. Er musste grinsen. Der Gedanke war absurd, schließlich war er erst zwanzig.
Langsam ging er auf die Tür zu. Oreas würde viele Fragen haben, also sollte er das Gespräch mit ihm so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sein alter Freund reagieren würde. Wütend, ohne Frage, aber gleichzeitig war er zu neugierig, um seine Fragen weiter unbeantwortet zu wissen. Er würde ihn ausfragen. Melanon kannte ihn einfach zu gut. Egal, wie sehr Oreas die Menschen auch hasste, er war immer noch zu neugierig, um das Mädchen einfach zu ignorieren.
Als er die Tür öffnete, fiel sein Blick sofort auf Oreas, der auf einem Stuhl am Tisch saß. Er stützte sich mit einem Ellenbogen ab und starrte geistesabwesend ins Feuer, das die einzige Lichtquelle im Raum war und Schatten über die Wände tanzen ließ. Sicher hatte er ihn schon längst bemerkt, also nahm sich Melanon einfach den Stuhl, der Oreas am nächsten war, setzte sich und seufzte hörbar auf. Oreas reagierte immer noch nicht. Dann—
„Könntest du mir das bitte erklären?“, seine Stimme war kalt und schneidend. Melanon konnte die unterdrückte Wut und Enttäuschung darin hören. Er seufzte wieder.
„Dir auch einen guten Tag, nachdem wir uns so lange nicht gesehen haben.“
Oreas drehte nun den Kopf und starrte statt in das Feuer in direkt Melanons Augen. Dieser Blick stand seiner Stimme in nichts nach. Oreas war wütend. Sehr wütend. Und es wäre mit Sicherheit nicht ratsam, ihn länger auf seine Antworten warten zu lassen.
„Ich hatte keine andere Wahl“, begann Melanon, „Gestern Abend bin ich noch auf der Straße nach Kraxia gewesen. Ich war schon ziemlich müde in dem Dorf in der Nähe des Elfenwaldes – du weißt schon, wir waren damals auf der Reise nach Ario auch dort“, fügte er erklärend auf Oreas’ fragenden Blick hin hinzu, „Jedenfalls wollte ich dort übernachten. Als ich angekommen bin, kam es mit schon komisch vor. Es war viel zu still. Und dann habe ich die erste Leiche gesehen. Das ganze Dorf war niedergemetzelt worden. Sogar die Kinder. Die Kleine war das einzige noch lebende Wesen. Ich vermute mal, sie ist genauso wie ich zufällig ins Dorf gekommen und hat dann die Leichen entdeckt. Wahrscheinlich hat der Anblick sie so erschreckt, dass sie gestolpert und hingefallen ist. Ihr Kopf lag auf einem Stein. Ich konnte sie da doch nicht so liegen lassen. Deshalb habe ich sie mitgenommen. Und du warst der einzige, der mir in so einer Situation einfiel.“
Erwartungsvoll erwiderte Melanon nun Oreas’ Blick. Doch der wandte den Blick ab und konzentrierte sich lieber auf seine Hände, die er auf dem Tisch gefaltet hatte. Er schwieg lange.
„Von dem Dorf hat sie auch erzählt“ – „Sie war wach?“ – „Ja, war sie, ist rumspaziert und wollte wohl weglaufen. Hab sie wieder ins Bett geschickt.“ Oreas Stimme war immer gespannter geworden. Er musste sich wirklich zusammenreißen. Also atmete er erst einmal tief ein und aus, dann—
„Was ich mich allerdings am meisten frage: Was hattest du in einem Dorf auf Derlova zu suchen?“ Er spießte Melanon praktisch mit seinen Blicken auf, doch der zeigte sich unbeeindruckt.
„Ich war auf dem Nachhauseweg.“
„Und warum warst du auf dem Nachhauseweg?“
Nun war es an Melanon zu schweigen, bis er schließlich die richtigen Worte gefunden hatte.
„Sagen wir einfach, ich war für die Ältesten nicht mehr tragbar.“
Oreas hob die rechte Augenbraue an. Er spürte, dass Melanon ihm nicht, jedenfalls jetzt noch nicht, mehr verraten würde. Alles, was der noch zu dem Thema zu sagen hatte, war, dass alles sehr plötzlich gekommen war und er ihn deshalb nicht mehr hatte benachrichtigen können.
„Wie geht es ihr jetzt?“
„Sie hat sich den Kopf ganz schön angeschlagen: Ich würde sagen, sie hat eine Gehirnerschütterung, bin natürlich kein Spezialist. Auf jeden Fall war ihr schwindelig, sie konnte ja nicht einmal vernünftig gehen. Das Essen, das ich ihr gegeben hab’, war allerdings weg, als ich wieder rein kam. Sie musste wirklich Hunger gehabt haben, wahrscheinlich wusste sie noch nicht einmal, was ich ihr hingestellt habe. Jetzt schläft sie jedenfalls. Ach ja, ihr Name ist Celia, und sie war ziemlich verängstigt“, fügte Oreas noch hinzu.
„Sie ist eine Waldelfe, oder?“
„Sie hat es nicht verneint.“
„Was sie wohl hier macht?“, fragte Melanon, mehr sich selbst, als Oreas. Der schwieg. Er wollte nicht darüber nachdenken.
„Was willst du essen?“
Melanon blickte auf. Es war ihm nicht entgangen, dass Oreas unbedingt vom Thema ablenken wollte. Und er hielt es für besser, nicht weiter zu bohren, auch wenn ihn brennend interessierte, was damals wirklich vorgefallen war.
„Ist relativ egal, ich esse alles. Aber sag mal, wie geht es Arqua?“
„Gut. Aber jedes andere Pferd hätte so eine Belastung nicht so gut weggesteckt. Du solltest ihn die nächsten Tage lieber ausruhen lassen.“
„Ist gut, nicht, dass es mir leid tun würde.“ Ein leichtes Grinsen huschte über Melanons Gesicht, verschwand aber wieder, als er daran denken musste, wie sein Vater reagieren würde, wenn er wieder zu Hause wäre.
Oreas holte etwas aus dem Schrank neben der Kochstelle und tat es in zwei Schüsseln, die er vor Melanon stellte. Brot und Käse. Bald standen auch zwei Teller, Becher, ein Krug Wasser uns Besteck auf dem Tisch. Dann wandte er sich um und ging auf die Tür zu, die sich neben der befand, aus der Melanon getreten war.
„Ich habe schon gegessen. Fang schon an, ich wecke die Kleine.“
Während Oreas durch die Tür ging, wandte sich Melanon seinem Essen zu. Er hatte gar nicht bemerkt, wie hungrig er war.
Als er das Zimmer betrat, musste Oreas sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Draußen war es inzwischen stockdunkel und nur der kleine Lichtschein, der ihm durch die Tür folgte, erhellte das Zimmer. Das Mädchen schlief immer noch. Für einen kurzen Moment dachte er daran, sie doch nicht zu wecken, so friedlich wie sie dalag, schlussendlich siegte dann aber seine Neugier. Außerdem hatte sie nun wirklich genug Schlaf gehabt in letzter Zeit.
Er schritt schnell zum Bett und schüttelte das Mädchen unsanft an der Schulter. Celia stöhnte gequält auf und öffnete nur widerwillig die Augen. Der Anblick der violetten Augen Oreas’ ließ sie dann aber schlagartig hellwach werden. Erst hatte sie ihn nicht erkannt und sich nur gewundert, warum ihre Mutter sie mitten in der Nacht weckte. Doch sie war ja nicht mehr zu Hause und ihre Mutter würde sie auch nicht mehr wecken.
„Steh auf, es ist schon Abend.“
Und wieder geschah das, was Celia absolut nicht verstand: Sie folgte der Anordnung, ohne darüber nachzudenken. Etwas, das sie nicht einmal bei ihrer Mutter oder Selion getan hatte. Als sie sich aufsetzte und die Beine auf den Boden setzte, fiel ihr auf, dass es ihr schon besser ging. Ihr Kopf schmerzte zwar noch etwas, aber übel und schwindelig wurde ihr nicht mehr.
Ohne lange zu warten oder Oreas’ Befehl wenigstens jetzt, in halbwegs wachem Zustand, anzuzweifeln, stand sie auf und ging auf die geöffnete Tür zu. Auch das ging viel leichter als am Tag. Oreas beachtete sie dabei gar nicht. Er war neben dem Bett stehen geblieben und folgte ihr mit zwei Schritten Abstand.
Celia blickte erst richtig auf, als sie durch die Tür getreten war, und was sie sah, ließ sie automatisch einige Schritte zurückstolpern, bis sie gegen Oreas prallte, der im Türrahmen stehen geblieben war. Doch das nahm sie kaum wahr. Sie starrte immer noch auf den Menschen (diesmal handelte es sich mit Sicherheit um einen), der am Tisch gesessen und gegessen hatte, bis sie eingetreten war und sie nun neugierig musterte. Da war ein Mensch. Und ein Mensch bedeutete Gefahr. Celia wäre am liebsten weggelaufen, doch ihre Beine wollten sich irgendwie nicht mehr bewegen.
Um die Elfe etwas zu beruhigen, begann Melanon zu lächeln und sagte: „Hallo, ich bin Melanon. Ich habe dich gefunden und hier her gebracht, weil es dir nicht gut ging. Vielleicht hat Oreas mich ja erwähnt. Schön zu sehen, dass es dir wieder besser geht. Setz dich doch“, fügte er noch hinzu und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber.
Celia starrte ihn immer noch argwöhnisch an. Sie misstraute dem Menschen, aber im Augenblick hatte sie nicht wirklich eine Alternative. Ihr Verstand, der sich inzwischen wieder eingeschaltet hatte, sagte ihr, dass eine Flucht in ihrem Zustand wohl kaum Sinn machen würde (sie wusste nicht einmal, wohin sie flüchten sollte) und ins Zimmer konnte sie sich mit Oreas im Rücken auch nicht zurückziehen. Also folgte sie der Aufforderung, ließ den Menschen aber keine Sekunde aus den Augen, auch nicht, als der sich wieder seiner Mahlzeit zugewandt hatte. Nur am Rande registrierte sie, dass Oreas sich auf den Stuhl, der der Tür am nächsten war, gesetzt hatte.
Der Mensch war relativ groß, soweit Celia das beurteilen konnte, auch wenn das im Sitzen nicht gerade leicht war. Für einen Elfen wäre er jedenfalls groß gewesen. Seine Haare waren kurz und reichten gerade bis über die Ohren. Sie waren wohl dunkelblond, auch wenn sie das in dem Licht schlecht erkennen konnte, und ziemlich unordentlich. Überhaupt war der Mensch recht ungepflegt. Die graue Kutte, die er trug, machte einen unglaublich verstaubten Eindruck und ließ ihn blass und mager wirken. Gut, vielleicht lag das nicht nur an der Kleidung, wenn die Elfe das Tempo, mit dem er aß, genauer betrachtete. Seine Augen aber waren etwas besonderes. Sie waren sehr blau und strahlten eine Lebendigkeit aus, die auch nicht durch die Augenringe getrübt wurde.
„Willst du nicht auch etwas essen?“
Das hatte sie aus den Gedanken gerissen. Er hatte sie schon eine Weile angestarrt und sie hatte es nicht einmal bemerkt. Sie musste einfach besser aufpassen. Nun fiel ihr Blick auch auf den Teller und die Schüsseln, die vor ihr standen. Melanon sah sie immer noch erwartungsvoll an. Zögernd griff sie in die beiden Schüsseln und zog etwas hervor. Was dieses Etwas war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Geschweige denn, was man mit dem braunen und gelblichen Zeugs zu machen hatte.
„Keine Sorge, es ist nicht vergiftet“, kam ein hämische Kommentar von der Seite. Oreas schien sich sehr über ihr Verhalten zu amüsieren. Er grinste leicht und seine Augen funkelten. Aber er brachte sie auf eine Idee. Sie wusste ja noch nicht einmal was das war. Vielleicht hatte der Mensch etwas damit angestellt. Oder sie vertrug es nicht. Es war besser, kein Risiko einzugehen.
Melanon lächelte.
„Oreas scherzt nur“, erklärte er, „Das sind Brot und Käse. Pass auf, du nimmst das Messer.“ Er nahm das Brot (bei der Erklärung hatte er auf die beiden Dinge gezeigt) von ihrem Teller in die eine und das Messer (Celia zuckte kurz zusammen) „und schneidest eine Scheibe ab … so.“ Er führte es ihr vor und nun lag eine Scheibe Brot auf seinem Teller. Den Rest legte er wieder auf Celias Teller.
„Und dann machst du dasselbe mit dem Käse, nur nimm besser eine dünnere Scheibe.“ Nun nahm er wieder das Messer und den Käse von Celias Teller, schnitt eine Scheibe ab, tat sie auf das Brot und biss einmal davon ab.
„Und vergiftet habe ich es auch nicht.“ Er grinste.
Celia runzelte die Stirn. Konnte doch nicht so schwer sein. Und blamieren wollte sie sich schließlich auch nicht, indem sie sich bei so einfachen Dingen blöd anstellte. Also nahm sie das Messer (kurz überlegte sie, ob sie die Männer vielleicht damit bedrohen und fliehen sollte, besann sich dann aber wieder ihrer guten Manieren und ließ es sein) und schnitt eine (mehr oder weniger) gleichmäßige Scheibe Brot ab. Der Käse machte ihr größere Probleme. Mehrfach rutschte sie ab, und so kam es, dass sie am Ende mehrere kleine Stückchen auf ihrer Scheibe Brot hatte. Jetzt fragte sie sich nur noch, ob es auch schmecken würde. Woraus wurde das eigentlich gemacht? Sie nahm sich vor, später zu fragen.
Dann schluckte sie noch einmal und biss in den sauren Apfel (das belegte Brot). Es schmeckte gar nicht mal unbedingt schlecht. Aber fremd. Sie hatte noch nie etwas vergleichbares gegessen. Die Elfen aßen meistens helle Fladen mit verschiedenstem Belag, aber nichts schmeckte ähnlich dem, das sie gerade aß.
Melanon und Oreas hatten Celia die ganze Zeit aus den Augenwinkeln beobachtet, bis sie fertig gegessen hatte. Melanon mochte die Elfe sofort. Er fand sie, oder besser gesagt ihr Verhalten, einfach nur niedlich. Ein bisschen wie ein kleines Kind, dass gerade erst die Welt kennen lernte. In gewissem Sinne war sie das ja auch. Oreas ging es ähnlich, auch wenn er es sich nicht so recht eingestehen wollte. Die kleine weckte einfach zu viele Erinnerungen in ihm.
Er räumte den Tisch ab, nachdem seine beiden Gäste fertig gegessen hatte und setzte sich danach wieder zu ihnen. Es herrschte verlegenes Schweigen. Keiner wollte zuerst das Wort ergreifen, bis Melanon sich schließlich erbarmte.
„ieso bist du eigentlich nicht in deinem Wald?“, das war die Frage, die ihm und wohl auch Oreas am meisten unter den Nägeln gebrannt hatte.
Celia zögerte. Sie misstraute ihm immer noch. Unsicher blickte sie zu Oreas, der angespannt auf dem Stuhl saß und geistesabwesend ins Feuer starrte.
„Ich wollte wissen, ob die Legenden über die Menschen wahr sind“, von ihrem Vater wollte sie nichts erzählen. Irgendwie war ihr das zu privat und sie hatte Angst, die beiden jungen Männer würden sich über sie lustig machen und ihr ebenfalls sagen, dass er bestimmt schon tot war. Sie war einfach nicht in der Verfassung, das noch einmal zu hören.
„Bist du schon zu einem Schluss gekommen?“
Es wunderte sie, dass er nicht fragte, um was für Legenden es sich handelte.
„Ja.“
Melanon schwieg einen Moment, doch Celia fügte nichts mehr hinzu. Er seufzte. Sie war wirklich sehr misstrauisch.
„Und wie sieht der aus?“
Kurz herrschte Stille.
„Sie sind wahr. Sie sind alle wahr! Menschen sind böse! Sie bringen sich ja sogar gegenseitig um!“ Sie war immer lauter geworden und hatte begonnen zu zittern. In ihren Augen sammelten sich Tränen, die sie schnell mit dem Handrücken abwischte. Ja, es war alles wahr, alle ihre Träume waren zerstört und auch von diesem Menschen würde ihr nur Unheil drohen. Was sie von Oreas halten sollte, wusste sie immer noch nicht.
„Wie viel hast du denn schon von den Menschen gesehen?“, fragte Melanon ruhig.
Celia stutzte. Was wollte er mit dieser Frage erreichen?
„Das Dorf, aber das hat ja wohl gereicht!“
Er dachte kurz nach. Dann antwortete er in immer noch ruhigem Ton: „Ja, vielleicht hast du recht. Vielleicht aber auch nicht. Weißt du, man sollte ein Buch nicht nur nach seinem Einband beurteilen. Außerdem ist die ganze Sache viel komplizierter, als man vermuten würde.“
Celia dachte nach. Über das, was sie bisher erlebt hatte. Ja, er hatte recht, sie wusste immer noch zu wenig über die Menschen. Doch sie hatte auch Angst vor dem, was sie unter Umständen noch finden würde. Sie war müde. Sie wollte nur noch nach Hause, in den Wald. Und dabei wusste sie nicht einmal, wie sie dorthin kommen sollte, geschweige denn, wo sie sich überhaupt befand. Sie fühlte sich rettungslos verloren und verzweifelt. Gefangen in einer fremden Welt, ohne den Rückweg zu kennen.
„Ich möchte doch bloß wieder nach Hause“, brachte sie schließlich mit gebrochener Stimme hervor.
„Ja, das kann ich gut verstehen. Wir befinden und hier etwas südlich des Waldes, wenn dir das hilft. Du solltest aber noch etwas bleiben. Mit deinem Kopf musst du vorsichtig sein, ruh dich besser noch etwas aus. Keine Sorge“, er ergriff Celias Hände und sie zuckte vor Schreck zusammen, „bei uns wird dir nichts passieren.“
Sie wusste selber nicht genau, wieso sie ihm glaubte, was er ihr sagte. Es lag wohl an dem traurigen Ausdruck in seinen Augen, als er sagte, er würde sie verstehen. Jetzt aber lächelte er sie wieder fröhlich an. Sie nickte schließlich zustimmend. Wenigstens wusste sie jetzt, wie sie wieder nach Hause kommen konnte.
Eigentlich widerstrebte es Melanon, sie so gehen zu lassen, mit ihrem Halbwissen über die Menschen. Er wusste sehr wohl, dass die Menschen grausam sein konnte, aber für diese Grausamkeit gab es auch Gründe. Und immerhin waren nicht alle Menschen so. Deshalb entschied er sich, ihr einen Vorschlag zu machen.
„Weiß du, ich werde nur ein paar Tage hier bleiben, bis sich mein Pferd ausgeruht hat. Dann reise ich weiter, in die Hauptstadt, meine Familie wohnt dort. Wenn du willst, kannst du mich begleiten. Wenn nicht, bringe ich dich bis zum Waldrand.“
Celia reagierte nicht. Sie hatte ihre Entscheidung so oder so gefällt. Die Einladung würde sie nicht annehmen. Etwas beschäftigte sie allerdings noch.
„Was ist eigentlich in dem Dorf passiert?“
Melanons Gesicht wurde ernst und er seufzte.
„Ich weiß es auch nicht. Ich bin kurz nach Einbruch der Dunkelheit dort angekommen. Wahrscheinlich waren es Banditen – Menschen, die davon leben, anderen Menschen ihr Hab und Gut wegzunehmen“, fügte er erklärend auf Celias Blick hinzu, „In dieser Gegend des Landes gibt es viele. Der König kann sie nicht mehr bekämpfen und durch die hohen Steuern werden immer mehr Menschen zu Banditen. Anders können sie nicht überleben. Die Dorfbewohner haben sich wohl gegen sie verteidigt und wurden als anschreckendes Beispiel oder als Bestrafung für den Ungehorsam umgebracht“, erklärte er.
Celia verstand nicht wirklich. Sie wusste nicht, was Steuern waren, wozu eine Bestrafung nötig war und warum überhaupt jemand deswegen getötet werden musste. Sie verstand nur eins.
„Dann ist der König ein schlechter König.“
Oreas sog hörbar die Luft ein. Melanon sagte nichts. Beide hielten es für besser, nichts zu dem Thema zu sagen, und Celia spürte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Um abzulenken, stellte sie eine völlig andere Frage.
„Was sind denn eigentlich Brot und Käse?“, fragte sie mit einem Unschuldsblick und in einem leicht weinerlichen Ton, der Melanon zum Lachen und selbst Oreas zum Schmunzeln brachte, wenn auch nur für einen Moment.
„Brot wird aus gemahlenem Getreide gemacht“, erklärte er ihr immer noch lachend. Gleichzeitig war er unglaublich froh, dass sie nicht noch mehr über den König und die Banditen wissen wollte. „Das ist eine Grasart. Und Käse wird aus Milch von Kühen oder Ziegen gemacht.“
„Milch?“, fragte sie ungläubig. Der Gedanke war aber auch zu absurd.
„Ja, ich kann es dir ja mal genauer erklären, wenn du willst.“
Celia nickte begeistert. Das wollte sie unbedingt wissen. Dann schwiegen sie sich wieder für einige Momente an. Celia hatte noch eine Frage, traute sich aber nicht so recht, sie zu stellen. Sie hatte Angst vor der Reaktion. Dann entschied sie sich aber doch, sie zu stellen.
„Also, eine Frage hätte ich noch …“, druckste sie herum.
„Ja?“
„Also, was“, sie drehte den Kopf und blickte Oreas direkt in die Augen, zog aber gleichzeitig den Kopf etwas ein, „Was bist du eigentlich?“
Oreas’ Blick wurde augenblicklich eiskalt und Celia wäre am liebstem im Boden versunken.
„Ich?“, fragte er, und seine Stimme war noch eisiger als sein Blick. „Ein Halbelf.“
Dann verließ er den Raum.
*
Celia hatte diese Tatsache geschockt. Melanon hatte ihr noch kurz erklärt, dass es verschiedene Arten von Elfen gab, sie aber im Allgemeinen lieber unter sich blieben, genauso, wie die Menschen, und dass es deshalb kaum Halbelfen gab und sie deswegen auch von den meisten schlecht behandelt wurden. Dann war auch sie gegangen. Melanon war Oreas gefolgt und stand nun wieder in dessen Zimmer. Der Halbelf lag auf dem Bett und hatte den Kopf im Kissen vergraben.
„Du hättest ruhig etwas freundlicher sein können. Sie kann auch nichts dafür“, ermahnte Melanon seinen Freund.
Oreas wusste das nur zu gut. Aber es änderte nichts an seinem Hass und der Wut auf die Elfe. Melanon verließ das Zimmer schließlich mit den Worten, er würde im Stall bei Arqua schlafen und ließ ihn mit seinen Grübeleien allein.