Kapitel III: Oreas
Das erste, das Celia wahrnahm, als sie erwachte, war der Schmerz in ihrem Kopf. Erst langsam drangen auch andere, durch den Schmerz verzerrte Fakten zu ihrem Bewusstsein durch. Sie lag auf dem Rücken, auf etwas weichem und sie konnte das Zwitschern von Vögeln hören. Am liebsten hätte sie ewig so vor sich hingedämmert, aber irgendetwas erschien ihr falsch. Nur was? Ja, die Vögel klangen irgendwie seltsam, so ganz anders, als sie es gewohnt war. Aber das war es nicht. Sie grübelte weiter, aber die Kopfschmerzen ließen sie keinen klaren Gedanken fassen. Warum hatte sie eigentlich so höllische Kopfschmerzen? Da war doch was. Genau, sie war hingefallen und musste sich den Kopf gestoßen haben. Aber warum war sie hingefallen? Sie war über etwas gestolpert. Einen Moment lang erschien es ihr lächerlich, dass eine Elfe über etwas gestolpert sein sollte, doch dann war plötzlich alles wieder da. Das Dorf, die Leichen, das Blut an ihren Händen und mit ihnen kam die Panik.
Verzweifelt versuchte Celia sich wieder zu beruhigen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Ihr Herz raste einfach weiter. Da war nur noch diese Angst. Angst davor, die Augen zu öffnen. Sie wollte und konnte den Anblick der Leichen nicht mehr ertragen, die neben ihr auf dem Boden lagen. Moment, Boden? Aber hier war doch alles weich, wie auf einem Kissen und wenn sie genauer darüber nachdachte, fühlte es sich auch an wie Stoff. Sie konnte also gar nicht auf dem Boden liegen und somit war auch ausgeschlossen, dass sich neben ihr irgendwelche Leichen befanden.
Für einen kurzen Moment war sie einfach nur unglaublich glücklich und erleichtert, bis sie realisierte, was das alles zu bedeuten hatte. Jemand musste sie gefunden und mitgenommen haben. Dieser jemand konnte unmöglich ein Elf gewesen sein. Es war also ein Mensch. Eines der Wesen, die dieses grauenvolle Blutbad angerichtet hatten. Was hatten sie nur mit ihr vor? Warum war sie nicht schon tot? Und wieder hatte sie panische Angst. Ihre Hände krallten sich in die Laken und sie kniff die Augen zu. Celia wollte die Augen nicht öffnen, hoffte es handle sich lediglich um einen bösen Traum, aus dem sie bald erwachen würde. Die Kopfschmerzen waren allerdings zu real um nur Bestandteil eines Traumes zu sein und je länger sie wartete, um so mehr wurde ihr klar, dass das kein Traum war, der einfach so verschwinden würde, dass sie nicht einfach aufwachen und über die Sache lachen würde. Das war die Realität.
Erst langsam drang wieder der Gesang der Vögel zu ihr durch. Es beruhigte sie ein wenig, obwohl sie die Vogelstimmen nicht erkannte. Vögel. Im Dorf hatte sie sie nicht gehört. Wo es Vögel gab, da war alles in Ordnung. Sie wäre geflohen, wenn hier irgendwo Gefahr drohte. Hier war niemand, vor dem sie sich fürchten müsste. Genau, hier war niemand. Sie war ganz allein. Sie hörte nur die Vögel, kein Atmen, Stimmen oder das scharrende Geräusch der Stiefel. Hier waren keine Menschen, jedenfalls nicht in ihrer näheren Umgebung. Aus irgendeinem Grund konnte sie nicht so gut hören wie sie es normalerweise tat. Womöglich war ihre Wahrnehmung immer noch von diesem hämmernden Schmerz beeinträchtigt.
Es dauerte, bis sich ihre Angst soweit reduziert hatte, dass ihre inzwischen schmerzenden Finger vom Laken abließen und sich auch der Rest ihres Körpers wenigstens geringfügig entspannt hatte. Vorsichtig öffnete sie die Augen, irgendwann musste sie es schließlich tun. Erst sah sie nur verschwommen und die Helligkeit blendete sie leicht. Dann bekam sie sofort den nächsten Schock.
Ihr Blick fiel wider Erwarten nicht auf einen blauen, möglicherweise auch grauen oder weißen Himmel oder auf das Blattwerk der Bäume, sondern auf eine in den verschiedensten Brauntönen gemaserte Fläche, die schätzungsweise zwei Meter über ihrem Kopf schwebte. Fast augenblicklich stellte sich die Art von Angst ein, die jeder Elf in einer Höhle empfand: Platzangst. Geschockt kniff Celia erst einmal die Augen zusammen.
Nach einigen Sekunden öffnete sie langsam erst das linke und dann das rechte Auge, nur um immer noch ungläubig und verängstigt auf dieses braune Etwas zu starren. Sie hätte schwören können, dass es sich auf sie zu bewegte und sie zu erdrücken drohte, doch es geschah nichts. Es musste also Einbildung sein, wie sie es auch in den Höhlen schon einmal erlebt hatte. Natürlich durfte sie sie damals nicht betreten und hatte sich entgegen des Verbotes hineingeschlichen. Alleine waren die dunklen engen Räume noch beängstigender als in Gesellschaft und das flackernde Licht der Fackel erweckte die Wände zum Leben und ließ sie wie farbiges Wasser in einem ruhigen flachen Fluss wirken.
Nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, blickte Celia sich suchend um, soweit ihr Kopf dies zuließ. Die Bewegung machte die Schmerzen noch schlimmer. Das Zentrum musste etwas oberhalb ihres linken Ohres liegen. Um überhaupt einen Überblick über ihren Aufenthaltsort zu erhalten, wandte sie den Kopf so langsam und vorsichtig wie möglich nach rechts, wobei es ihr nicht so recht gelingen wollte, den Schmerz so minimal wie möglich zu halten. Mit jedem Herzschlag verursachte das pochende Blut nun nur noch größere Schmerzen. Am liebsten hätte sie laut geflucht, aber ihre Kiefermuskeln wollten ihr aus irgendeinem Grund einfach nicht gehorchen. Das einzige, das den Schmerz erträglicher machte, war, erneut die Augen zu schließen.
Als sie sie wieder öffnete (das Pochen war nur noch dumpf wahrnehmbar), fiel Celias Blick auf etwas absolut Merkwürdiges. In dieser braunen Fläche, die sich irgendwann scharf zum Boden neigte, befanden sich vier rechteckige Löcher, durch die man einen Blick auf den Himmel erhaschen konnte. Es lag jedenfalls nahe, dass das blaue Etwas der Himmel war, je weiter in die Ferne sie blickte, desto mehr verschwamm alles.
Celia konnte gar nicht anders, als erleichtert auszuatmen (was sie jedoch wieder recht schmerzhaft an ihren Kopf erinnerte). Der Himmel war wie ein Anker in dieser fremden Welt in der sie kaum etwas erkannte. Jetzt, wo sie länger die Augen geöffnet hatte, schärfte sich ihr Blick auch wieder. Und bei genauerer Betrachtung stellte sie fest, dass sie die viereckigen Löcher kannte. Sie hatte sie schon einmal gesehen, im Dorf, damals allerdings von außen, bevor … nein, daran wollte sie jetzt nun wirklich nicht denken.
Doch natürlich dachte sie daran. Es fühlte sich an, als ob eine kalte Hand ihr Herz umfasste, aber die Panik hielt sich einigermaßen in Grenzen. Sie war also wirklich bei den Menschen, in einem ihrer Häuser. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie Menschen in etwas derartig Beengendem leben konnten. Wirklich merkwürdig. Aber daran sollte sie sich wohl besser ein andermal Gedanken machen. Sie war schließlich bei den Menschen. Das musste sie sich einfach immer wieder in Erinnerung rufen, wenn sie wieder abzuschweifen drohte. Sie brauchte jetzt ihre Konzentration. Und mit ihrer Hilfe musste sie zunächst einmal ihre Angst verdrängen. Die konnte ihr in dieser Situation am allerwenigsten helfen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren und so schnell wie möglich über einen Ausweg aus dieser Situation nachdenken. Das wäre aber sicher nicht der Fall, wenn sie weiterhin liegen blieb. Zuallererst musste sie aufstehen.
Also biss Celia die Zähne zusammen, atmete drei Mal tief durch und kniff die Augen zusammen. Dann stemmte sie sich langsam, die Kopfschmerzen ignorierend, in eine sitzende Position. Was war bloß mit ihrem Kopf, dass er so schmerzte? Jetzt, im Sitzen, hatte sich auch noch übelkeit zu dem Pochen gesellt. Als hätte das alleine nicht schon gereicht. Automatisch legte sie die linke Hand an den Kopf. Sie stutzte. Eigentlich hätte sie ihre Haare spüren müssen, aber stattdessen … irgendjemand (Korrektur: irgendein Mensch) musste ihren Kopf verbunden haben! Aber warum? Eigentlich, wenn man logisch darüber nachdachte, gab es nur eine Erklärung. Die Menschen wollten ihr doch nichts Böses und wollten sie nur gesund pflegen. Das jedenfalls hätten die Elfen getan. Aber sie war schließlich bei den Menschen. Wollten sie sie nur gesund pflegen, um ihr etwas Schlimmeres anzutun? Celia verfiel wieder ins Grübeln, bis es ihr gelang, sich erneut zur Vernunft zu rufen. Das war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für derartige Entgleisungen.
Sie sah sich erneut im Zimmer (wie sie ja inzwischen herausgefunden hatte) um. Es war wirklich einfach alles braun gemasert, aus Holz, wie sie feststellte (sie konnte wieder einigermaßen klar sehen). In einer Ecke stand ein Tisch, mit Stühlen. Auf einem der Stühle entdeckte sie ihren Rucksack und neben diesem Stuhl standen ihre alten und abgenutzten Lieblingsstiefel. Das erstaunte sie. Es wirkte irgendwie so, als hätte sich jemand wirklich Mühe gegeben, ihre Sachen in Ordnung zu halten. Sie hätte sogar schwören können, dass die Stiefel sauberer waren als zuvor. Warum hätte jemand das tun sollen?
Wie auch immer, sie sollte jetzt besser aufstehen und nicht wieder über Unsinn nachdenken. Als sie ihre nackten Füße auf den unerwartet warmen Boden gesetzt hatte, fiel ihr auf, dass sie gar nicht, wie gewohnt, in großen, flauschigen Kissen gelegen hatte. Ihre Schlafstätte hatte sie bisher gar nicht beachtet, dabei war sie das mit Abstand ungewöhnlichste im ganzen Raum. Sie hatte zwar auf einer Art Kissen geschlafen, aber es war merkwürdig eckig und starr geformt und lag noch dazu in einem Holzgestell. Ihr Kopf hatte auf einem kleineren richtigen Kissen gelegen. Etwas so merkwürdiges und faszinierendes wie dieses Holzgestell hatte sie noch nie gesehen. Menschen waren schon recht eigenartig.
Das Aufstehen gestaltete sich wesentlich schwieriger, als sie erwartet hatte. Celia hatte zwar damit gerechnet, dass Kopfschmerzen und Übelkeit wieder zunehmen würden, aber nicht damit, dass ihr plötzlich schwarz vor den Augen werden und sie die Orientierung verlieren würde. Sie fand sich schließlich auf dem Rücken liegend auf der Mischung aus Holzgestell und Kissen wieder. Sie war also kurz ohnmächtig geworden.
Beim zweiten Versuch ließ sie es wesentlich langsamer angehen, und um ein erneutes Umkippen zu vermeiden, rückte Celia diesmal näher an einen der Pfeiler des Gestells heran und zog sich daran hoch. Wieder tanzten schwarze Punkte vor ihren Augen, doch wurde ihr nicht gänzlich schwarz vor Augen und dank des Pfeilers kippte sie auch nicht wieder um (auch wenn sie nicht mit Sicherheit hätte sagen können, dass sie stand).
Es dauerte einige tiefe Atemzüge, bis ihr Gleichgewichtssinn sich wieder aktiviert hatte und sie sich sicher genug auf den Beinen fühlte, um einen Schritt zu wagen. Die vier Schritte bis zum Tisch stolperte sie eher unsicher vor sich hin. Am Ende musste sie sich an den Stuhl klammern und riss diesen fast mit sich zu Boden. Es erstaunte sie schon, dass es ihr gleich beim ersten Versuch gelang.
Sie setzte sich auch gleich auf den Stuhl und atmete wieder tief durch, konzentrierte sich auf dieses nervtötende Pochen und entspannte sich so gut wie möglich, bis es endlich kaum noch wahrzunehmen war (als Pochen, der Schmerz blieb). Dann wandte sie den Blick zu Boden. Zu ihren Stiefeln. Sie nahm den linken und betrachtete ihn ausgiebig. Er sah wirklich sauberer aus. Vielleicht war es auch nur Einbildung. Stirnrunzelnd streifte sie ihn sich über den Fuß und griff nach dem nächsten. Als sie schließlich fertig war, nahm sie ihren Rucksack und öffnete ihn. Nach genauer Untersuchung stellte sie fest, dass nichts fehlte. Das wunderte sie schon, auch wenn sie nicht wusste wieso und was sie erwartet hatte.
Celia wollte sich gerade auf den Tisch aufstützen und aufstehen, als ihr einfiel, dass die gar nicht wusste, wie sie aus dem Zimmer herauskommen sollte. Ob sie es in diesem Zustand schaffen würde, aus dem Fenster zu klettern? Einen Versuch war es jedenfalls wert. Es befand sich nur etwa drei Schritte von ihrem Stuhl entfernt. Inzwischen hatte sie auch weniger Probleme mit dem Aufstehen und das Gehen (oder besser Torkeln) ging auch leichter. Als sie dann aber durch eines der Löcher fassen wollte, prallte ihre Hand an einer unsichtbaren Barriere ab. Das machte ihr Angst. Es verstärkte das immer noch unterbewusst vorhandene Gefühl der Platzangst und stürzte ihre Vermutung, dass die Menschen es doch nicht so gut mit ihr meinten. Was, wenn alle Auswege durch unsichtbare Barrieren versperrt waren um sie an der Flucht zu hindern? Gab es überhaupt einen anderen Ausweg? Hektisch sah sie sich im Raum um, bis ihr Blick auf etwas Merkwürdiges fiel.
In der Wand gegenüber des Holzgestelles befand sich eine längliche Rille, die eine längliche Fläche vom Rest der Wand abgrenzte. Etwa auf halber Höhe in der Fläche hing ein eigenartiger Gegenstand. Neugierig ging (wohl doch eher wackelte) Celia zu diesem „Ding“ um es genauer zu untersuchen. Ihr kam tatsächlich eine Vermutung. Sie hatte in den Büchern öfter etwas von „Türen“ gelesen, mit deren Hilfe man Räume betreten und verlassen konnte. Nur wie ging das? Es musste doch einen Mechanismus geben. Dummerweise hatte sie keine Ahnung, wie sie ihn finden oder auslösen sollte. Soweit sie sich erinnern konnte, stand darüber auch nichts in den Büchern.
Nachdenklich ließ sie die Finger über die Rillen gleiten, aber nichts geschah. Das war es also nicht. Dann sollte sie ihre Aufmerksamkeit dem Gegenstand widmen. Erst einmal betrachtete sie diesen aus Holz gefertigten Entenkopf (wenigstens ähnelte er entfernt einem solchen) ausgiebig. Schließlich versuchte sie, dieses Ding einzudrücken oder herauszuziehen. Nach einigen Versuchen stellte sie wenigstens fest, dass es sich nach unten drücken ließ. Aber sonst passierte immer noch nichts. Etwas fehlte bestimmt, nur was? Das Drücken musste mit etwas kombiniert werden. Sie drückte das Was-auch-immer-es-sein-mochte nach unten und gleichzeitig nach innen, dann probierte sie es mit ziehen und – siehe da – das Holz gab nach und gab den Blick auf einen weiteren Raum frei.
Celia war gleichzeitig unheimlich glücklich und enttäuscht. Einerseits hatte sie es geschafft, die Tür zu öffnen, aber andererseits hatte sie gehofft, im Freien zu sein. Dem war aber dummerweise nicht so. Sie stand nun in einem Raum, der größer war als der vorherige und kein Holzgestell beinhaltete. Sie fühlte sich wieder so unwohl. An den anderen Raum hatte sie sich schon mehr oder weniger gewöhnt. Nun hatte sie wieder etwas Angst. Doch auch in diesem Raum war kein Mensch, den sie hätte fürchten müssen. In der Mitte stand ein Tisch, der größer war und mehr Platz bot. In der rechten Ecke gab es eine Feuerstelle aus Stein. Und noch etwas unterschied diesen Raum von dem anderen: an den Wänden hingen Bilder. Ein Teil von Celia hätte den Raum gerne noch genauer unter die Lupe genommen und analysiert, aber ihr Verstand und ihre Angst geboten ihr, so schnell wie möglich einen Ausweg zu finden.
In der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Fenster und direkt neben diesem eine weitere Tür. Dort musste ein Ausweg sein! So schnell es eben ging stolperte Celia auf diese Tür zu, wobei sie sich immer kurz an dem Tisch und den Stühlen abstürzen musste.
Am Ziel angelangt drückte sie das Etwas wie zuvor nach unten und versuchte, die Tür aufzuschieben – doch nichts geschah. Funktionierten diese Türen etwa alle anders? Das war aber kompliziert. Wer dachte sich denn etwas so unlogisches aus (die Menschen). Nun, dann musste sie es wieder anders versuchen und so lange probieren, bis die Tür sich öffnete. Beim ersten Mal hatte es schließlich auch funktioniert. Also drückte sie das Etwas herunter und zog gleichzeitig. Und siehe da, zu Celias Überraschung, öffnete sich die Tür sofort und gab den Blick auf einen Platz frei. Gleichzeitig strömten viele Geräusche auf sie ein, die sie vorher nur gedämpft wahrgenommen hatte. Von allen Seiten schnatterte, zwitscherte, schnaubte, klapperte und grunzte es. Ihre Kopf-schmerzen verschlimmerten sich schlagartig und das Sonnenlicht brannte ihr in den Augen.
Einige Sekunden war sie von dieser Vielfalt von Eindrücken einfach gelähmt. Erst, als sich ihre Augen einigermaßen an das Licht gewöhnt hatten, nahm sie auch den Platz genauer wahr. In seiner Mitte befand sich ein gemauertes Rund, an den gegenüber-liegenden Seiten wurde er von Gebäuden begrenzt, aus denen eindeutig einige der unterschiedlichen Geräusche kamen. Auf dem Hof tummelten sich die verschiedensten Vögel und machten einen Heidenlärm, während sie sich um Körner und Würmer zankten.
Sie wusste nicht, wie lange sie einfach so im Türrahmen stand und den Hof begut-achtete, doch dann besann sie sich eines Besseren und stolperte, um einen besseren Überblick zu erhalten, zwischen den Vögeln hindurch auf das gemauerte Rund zu. Dort angekommen war sie wieder zu erschöpft, um auch nur einen Schritt zu tun. Die größten der Vögel (es waren eindeutig Vögel, wie man an ihren Federn gut erkennen konnte) liefen nun auf sie zu und schienen etwas von ihr zu erwarten. Dabei gackerten sie nur noch lauter. In diesem Moment konnte Celia gar nicht anders als lächeln. Es war einfach zu putzig, wie diese merkwürdigen Vögel um sie herumwuselten.
„Na, bist du aufgewacht?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Sie zuckte kurz zusammen. Diese Stimme ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie wollte weglaufen, aber ihre Beine bewegten sich einfach nicht. Sie nahm gar nicht mehr wahr, wie die lustigen Vögel immer noch um sie herumliefen und ihr Kopf dumpf pochte. Auch wenn die Frage an sich nicht böswillig gemeint zu sein schien, der kalte Ton machte ihr Angst. Sie hatte nur noch den einen Gedanken in ihrem Kopf: ein Mensch! Hinter ihr stand ein Mensch. Sie würde nicht weglaufen können und war ihm vollkommen ausgeliefert.
Nach einer halben Ewigkeit nahm sie dann doch endlich den Mut zusammen, sich umzudrehen. Was sie dann sah, verschlug ihr die Sprache. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Vor ihr stand ein junger Mann. Soviel stand wenigstens fest. Ihn weiter einzuordnen war Celia jedoch nicht möglich. Seine Haut und seine Haare waren viel heller als bei all den Menschen, die sie bisher beobachtet hatte. Aber gleichzeitig war seine Haut um einiges dunkler als die der Elfen und seine Haare konnte man immer noch als blond bezeichnen. Seine Augen hatten exakt die gleiche Farbe wie Celias (also violett). Was die Elfe an der gesamten Erscheinung allerdings am meisten verwunderte, waren die Ohren des jungen Mannes. Sie waren spitzer als die eines Menschen, das konnte sie mit Sicherheit sagen. Elfenohren hingegen waren größer als seine.
Inzwischen starrte er die Elfe vor sich schon etwas verärgert an, doch Celia entging das. Sie musterte inzwischen seine Kleidung. Sie war ohne jeden Zweifel die eines Menschen. Ähnliche Stoffe hatte sie bereits gesehen. Er trug ein Wams aus grünem und braunem Menschenstoff, deren Farben immer um einiges kräftiger waren als die der Elfenkleider. Ob der Mann vor ihr wohl in Elfenkleidung wie ein Elf aussehen würde?
„Komm rein, ich denke wir sollten da weiter reden.“
Mit diesem Satz drehte sich der junge Mann um und ging auf die Tür zu, durch die Celia gerade erst getreten war. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie ihn die ganze Zeit mit leicht geöffnetem Mund angestarrt hatte. Sie lief rot (soweit man das bei Elfen so nennen konnte) an. Elfen sollten so etwas nicht tun. Sie war auch viel zu perplex um zu realisieren, dass dies der perfekte Zeitpunkt zur Flucht gewesen wäre. Sie folgte ihm einfach, so schnell es ging.
Drinnen sah Celia, dass sich der junge Mann an den Tisch gesetzt hatte uns sie nun erwartungsvoll anblickte. Sie blieb aber immer noch unschlüssig im Türrahmen stehen, bis er sie mit einer Geste aufforderte, sich zu setzten. Das tat sie dann auch und tat währenddessen so, als seien der Tisch und die verschiedenen Bilder an den Wänden besonders interessant. Es war ihr einfach nur peinlich ihn so angestarrt zu haben und sie wollte diesen Fehler nicht zweimal machen. Dieser Mann machte sie einfach nervös.
„Ich bin Oreas.“
Die Elfe zögerte einen Moment. Seine (Oreas’) Stimme verunsicherte sie ungemein. Sie war so kalt und tonlos uns sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich besser für das Anstarren entschuldigen sollte.
„Ce … Celia“, brachte sie schließlich stammelnd hervor. Und fügte dann noch ein etwas sichereres „Es tut mir leid, dass ich dich so angestarrt habe“ Hinzu.
„Ich bin daran gewöhnt. Du bist eine Waldelfe. Was machst du hier?“
Celia blieb stumm. Was sollte sie auch auf seine Frage antworten, wo sich doch nicht einmal wusste, wo „hier“ war. Ihr fiel allerdings auf, dass er nicht gesagt hatte, es würde ihm nichts ausmachen, dass sie ihn angestarrt hatte. Da hatte sie wohl doch einen Fehler gemacht.
Oreas seufzte genervt.
„Kannst du mir wenigstens verraten, wieso du Melanon begleitet hast?“
Jetzt starrte sie ihn wieder an. Diesmal hingegen verwirrt.
„Melanon?“
Von wem sprach dieser Oreas? Sie sollte jemanden begleitet haben?
„Ja“, sagte Oreas, und fügte dann erklärend hinzu „Mein alter Freund Melanon stand heute morgen völlig erschöpft mit dir in seinen Armen vor meiner Tür. Er hatte gerade noch genug Kraft, um sich in mein Zimmer zu schleppen und ist auf der Stelle eingeschlafen.“
„Ich … ich kann mich nicht erinnern. Da … da waren nur … so viele Leichen … und … und“, Celia brach ab und schluckte. Sie konnte einfach nicht darüber reden und spürte, wie ihr Träuen in die Augen stiegen.
Oreas musterte sein Gegenüber kurz und entschied dann, dass es wohl besser wäre, es dabei zu belassen.
„Schon gut. Melanon wird es uns erzählen, wenn er wieder wach ist. Du solltest dich auch wieder hinlegen. Möglicherweise hast du eine Gehirnerschütterung. Auf jeden Fall muss dir der Kopf höllisch weh tun. Vorher solltest du aber noch etwas essen.“
Diese Anweisungen überraschten Celia völlig und sie wusste nichts darauf zu erwidern. Sie machte einfach, was er ihr sagte, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Erst, als sie die Tür zuschlagen hörte, wachte sie wieder aus ihren Tagträumen auf. Vor ihr stand ein Teller mit Essen. Sogar obwohl sie keine Ahnung hatte, was sich da auf ihrem Teller befand, knurrte Celias Magen plötzlich höllisch und sie wurde wieder rot, als ihr auffiel, dass sie seit über einem Tag nichts gegessen hatte. Auch fühlte sie sich unheimlich ausgelaugt und müde, obwohl sie gerade erst geschlafen hatte.
Aber zunächst gewann der Hunger über die Müdigkeit und sie stopfte ohne weiter darüber nachzudenken, was sie da aß, einfach alles in sich hinein. Im Nachhinein hätte sie wohl auch nicht mehr sagen können, wie es geschmeckt hatte. Sie war einfach zu beschäftigt mit ihren Gedanken. Jetzt, wo Oreas sie nicht mehr überrumpeln und verunsichern konnte, fielen ihr tausend Fragen ein, die sie ihm hätte stellen wollen. Und sie ärgerte sich darüber, dass sie sich einfach so von ihm herumkommandieren ließ. Das war ihr noch bei keinem passiert. Nicht mal ihre Mutter hatte das tun können. Warum also er?
Und was war er überhaupt? Er war kein Elf und nach Celias Wissen über die Menschen konnte er auch kein Mensch sein. Nur was blieb dann noch übrig? Gab es etwa noch andere Rassen, von denen die Elfen nichts wussten?
Weitere Fragen kreisten um Oreas Charakter. Er hatte ihr den Kopf verbunden, da außer ihm nur noch dieser Melanon im Haus zu sein schien, und der schlief offenbar. Daraus ließ sich schlussfolgern, dass er eigentlich in Ordnung sein musste. Er musste wenigstens ein bisschen was für sie übrig haben. Gleichzeitig hatte sie aber auch das unbestimmte Gefühl, dass er sie hassen würde. In ihrem kurzen Gespräch, das aus Celias Sicht eigentlich mehr aus einer Folge von Anweisungen bestand, hatte er auf sie den Eindruck gemacht, als habe er sich unheimlich zusammenreißen müssen. Dieser Mann brachte sie einfach durcheinander. Und wer war überhaupt dieser Melanon.
Als sie mit dem Essen fertig war, überlegte sie, was sie als nächstes tun sollte. Sie hätte Oreas am liebsten alle ihre Fragen gestellt, kam dann aber zu dem Schluss dass es besser wäre, das nicht zu tun. Einerseits weil er ihr unheimlich war und andererseits weil es wahrscheinlich doch wieder so enden würde, das er sie herumkommandierte. Und das ließ ihr Stolz nicht zu. Also beschloss sie, sich lieber noch einmal schlafen zu legen und ging in das Zimmer, in dem sie aufgewacht war. Sie wäre wohl auch zu erschöpft für ein längeres Gespräch gewesen, obwohl sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wovon.
Sie legte sich hin und kuschelte sich in die Decke ein. Ihr war zwar nicht wirklich kalt, aber der Schutz, den sie bot, tat gut. Sie grübelte immer noch über Oreas nach, bis der Gesang der fremden Vögel sie schließlich in einen unruhigen Schlaf fallen ließ.
Sie träumte von ihrem Vater, sah ihn als Leiche neben den anderen im Dorf liegen, und das, obwohl sie nicht einmal wusste, wie er aussah. Irgendwie tauchte auch Oreas immer wieder auf, aber sie konnte ihn nicht wirklich in einen Zusammenhang mit den anderen Gestalten bringen. Eine Frage verfolgte sie immer weiter in ihren Träumen: Warum war sie eigentlich nicht einfach weggelaufen, obwohl sie es doch wollte? Sie verstand sich selbst nicht mehr.
*
Oreas war wieder nach draußen gegangen, so schnell es ging. Er musste sich noch weiter um Arqua kümmern. Die Elfe hatte ihn unterbrochen. Melanon hatte das Tier wirklich stark beansprucht, aber zum Glück war der Hengst zäh. Das war er schon als Fohlen. Deshalb hatte sein Vater ihn wohl auch Melanon geschenkt, damit er nicht so alleine auf der Insel der Magier war.
Als er an diesem Morgen einfach so vor Oreas’ Tür aufgetaucht war, hatte er ihn wirklich überrascht. Oreas wusste ja nicht einmal, dass er nicht mehr Schüler auf Perelos war, doch das war augenscheinlich der Fall. Nicht einmal einen Brief hatte er ihm geschickt. Gerade das verwunderte ihn, denn Melanon hatte ihm immer regelmäßig geschrieben. Er hätte ihn zu gerne ausgefragt, aber hielt es dann doch für besser, ihn nicht zu wecken, als er ihn schlafend in seinem Bett vorfand. Geduld war schließlich immer noch eine Tugend.
Stattdessen hatte er erst einmal die Elfe untersucht. Über sie machte er sich auch die meisten Gedanken. Was war passiert, dass Melanon die Elfe ausgerechnet bei ihm anschleppte? Er hätte sie genauso gut in eines der Dörfer bringen können. Das machte ihn wütend. Melanon wusste genau, dass er die Elfen hasste. Sogar noch mehr als die Menschen, und das hieß schon etwas.
Wunderbar, nun konnte er den ganzen Tag damit verbringen, über Dinge nachzudenken, die er schon längst verdrängt geglaubt hatte. Seine Laune war auf einem Tiefpunkt angelangt. Und das nur dank seinem alten (und wohl einzigen) Freund Melanon und irgendeinem Elfenmädchen. Und dann auch noch eine Waldelfe. Das konnte man an der Kleidung deutlich sehen. Die anderen Elfen kleideten sich anders. Dabei verließen sie doch sonst nie ihren Wald. Und dann musste die Kleine auch ausgerechnet bei ihm landen. Einfach großartig. Melanon würde eine wirklich gute Entschuldigung brauchen.
Während er den Hof überquerte, liefen die Hühner auf ihn zu und gackerten fröhlich. Oreas würdigte sie keines Blickes. Er hatte sie schon gefüttert. Also machte er sich geradewegs auf den Weg in den Stall. Arqua stand in einer der Boxen (die meisten waren leer, Oreas besaß nur noch drei Pferde) und blickte auf. Der Anblick des Pferdes besserte seine Laune sofort. Ein echtes Prachttier. Im Gegensatz zu Menschen und Elfen (und Zwergen, nicht zu vergessen) konnte Oreas sie sehr gut leiden. Dummerweise hatte er die meisten verkaufen müssen, nachdem … nein, er dachte schon wieder daran, das war doch kaum zu fassen. Den ganzen Morgen ging das nun schon so. Er seufzte tief. Da gab es eigentlich nur eins: sich mit Arbeit ablenken.