Kapitel II: Das Dorf
Celia war den ganzen Tag der kleinen (oder in ihren Augen breiten) Straße gefolgt, doch außer Gras und hin und wieder einer kleinen Gruppe Bäume hatte sie nichts größeres gesehen. Allerdings hatte sie auch viel Zeit darauf verwendet, die kleinen Insekten und diverse Blumen ausgiebig zu bewundern.
Gegen Mittag hatte sie einen kleinen Platz am Rand der Straße gefunden, in dessen Mitte sich eine Feuerstelle befand. Celia vermutete, dass ihn die Wagen, die auf der Straße reisten, hier für die Nacht Halt machten. Das war die erste Spur von Menschen (abgesehen von der Straße), die sie entdeckte, und sie nahm ihn genauestens unter die Lupe. Dabei fand sie einige merkwürdige, kleine, runde, metallene Plättchen mit Löchern in der Mitte, offenbar Talismane. Außerdem einige Tonscherben und ein Stück Holz, an dem offensichtlich jemand geschnitzt hatte.
Begeistert setzte sich Celia sofort auf den Boden und zog das Wachspapierpaket mit den Schreibutensilien aus ihrem Rucksack. Es dauerte mehrere Stunden, bis sie die Objekte und Tier- und Pflanzenarten gezeichnet und über sie geschrieben hatte. Es waren bereits mehrere Seiten des Papiers gefüllt. Wenn das so weiterginge, hätte sie bald kein Papier mehr. Hoffentlich wäre ein Mensch so freundlich, ihr etwas zu geben.
Als sie bemerkte, wie lange sie schon so da saß, sprang sie hastig auf und verstaute die lustigen Plättchen in ihrem Rucksack, zusammen mit dem Schreibzeug. Celia war mittlerweile so gespannt, dass sie vollkommen vergaß etwas zu essen, bevor sie den Rucksack schulterte und sich erneut auf den Weg machte.
Sie ging dabei nie direkt auf der Straße. Sie hatte es am Vormittag versucht, hatte sich aber aus irgendeinem Grund total ausgeliefert gefühlt. Also hatte sie sich entschieden, etwas abseits der Straße durch das kniehohe Gras zu wandern, auch wenn das mühsamer war. Sie hatte sich inzwischen auch halbwegs an die endlose Weite gewöhnt, auch wenn es ihr immer noch leicht die Kehle zuschnürte, wenn sie zu lange in die Ferne sah.
Als sich die Sonne im Westen dem Horizont näherte, kam Celia wieder nicht umhin, stehen zu bleiben und mit offenem Mund zu staunen. Das sich langsam entfaltende Farbspiel zwischen Gelb- und Rottönen, die schließlich in ein Violett und dann in ein fast schwarzes Blau übergingen, war einfach zu beeindruckend. Sicher, im Elfenwald hatte man auch an manchen Tagen die Farben am Himmel sehen können, aber durch die Bäume war das Zentrum der Farben verdeckt worden, wie Celia nun feststellte. Ohne die Bäume war ein Sonnenuntergang einfach zu wundervoll, um ihn nicht anzustarren. Erst, als die Sonne bereits hinter dem Horizont versunken war und nur noch ein heller Schimmer angab, wo Westen war, ging sie weiter.
Eigentlich hätte sie müde sein sollen, schoss es Celia durch den Kopf, aber sie war viel zu aufgekratzt um das wahrzunehmen. Ebenso wie den Hunger. Sie wollte nur noch mehr sehen.
Und sie sah mehr. Gerade, als auch der letzte Schimmer am Horizont verschwand, machte sie am Rande der Straße einen verdunkelten Gegenstand sah. Die Form war zu ebenmäßig, es konnte sich also unmöglich um Bäume handeln. Neugierig schlich sie näher heran, versteckte sich dabei bis zum Kopf im hohen Gras, bis sie Vertiefungen, die ebenso eine regelmäßige Form besaßen, entdecken konnte. Es mussten Häuser sein! Richtige Häuser mit Dächern und Räumen! Und die Vertiefungen mussten Fenster und Türen sein, damit die Menschen durch die Wände auch etwas sehen konnten! Inzwischen war es, abgesehen von dem Mond, der zeitweise von Wolken verdeckt wurde, vollkommen dunkel und so entschied sich Celia, dass sie das Dorf wohl gefahrlos in Augenschein nehmen konnte. Die Menschen schliefen sicher schon, und wenn doch nicht, so würden sie sie wohl nicht entdecken.
Als sie nur noch wenige Meter von den ersten Häusern entfernt war, fiel ihr diese unnatürliche Stille auf. Irgendwie hatte sie sich die Menschen immer lauter vorgestellt. Oder waren sie nur so laut, wenn sie durch einen Wald fuhren? Vielleicht waren sie auch nur im Schlaf so leise. Doch diesen Gedanken verdrängte sie so schnell es ging wieder. Jetzt war nicht die Zeit für Zweifel. Den Grund würde sie schon noch erfahren und ihre Vermutungen brachten sie sowieso nicht weiter. War sie nicht von zuhause fortgegangen, um mit den Vermutungen Schluss zu machen und endlich Gewissheit zu erlangen? Sie wollte sich doch schließlich unbedingt einmal Menschen aus der Nähe ansehen und das war schließlich die perfekte Gelegenheit.
Fast absolut geräuschlos schlich sie weiter. Wer wusste denn wie gut die Menschen hören konnten. Über die Deckung brauchte sie sich bei der Dunkelheit wohl keine Gedanken mehr machen, also stand sie langsam auf. So hatte sie auch einen besseren Überblick. Ein bisschen wunderte es sie aber schon, dass nirgendwo Licht brannte. Warum die Menschen das wohl so machten? Bisher hatte sie sie nachts im Wald immer mit Fackeln gesehen.
Schließlich hatte sie die Straße erreicht, die ins Dorf führte. So käme sie am besten in Dorf, aber sollte sie das wirklich wagen? In der Dunkelheit fühlte sie sich noch ausgelieferter. Nach einigem hin und her riss Celia sich jedoch zusammen und trat langsam auf die Straße. Es fühlte sich irgendwie merkwürdig an. Um nicht weiter über dieses Gefühl nachdenken zu müssen, schlich sie schließlich weiter und lenkte ihre Gedanken auf das Dorf und die Menschen, die darin wohl leben mochten.
Als sie das erste Haus passierte, begann die Stille ihr nun doch Sorgen zu machen. Auf diese Entfernung hätte sie sogar die Elfen problemlos gehört. Ob das Dorf verlassen war? Eine andere Erklärung konnte es eigentlich nicht geben. Aus ihrer Erfahrung wusste sie, dass Menschen immer seltsame Tiere bei sich hatten, aber auch die Tiere konnte sie nicht hören. Ratlos schlich sie zu dem Haus, das ihr am nächsten stand, und blickte durchs Fenster, doch sie sah kein einziges Lebewesen.
Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken. Ihr Instinkt sagte ihr einfach, dass etwas nicht stimmte, dass es besser war, zu gehen, bevor es zu spät wäre. Warum nur löste das Menschendorf derartige Empfindungen aus? Es war doch unbewohnt. Da gab es einfach nichts zu fürchten. Trotzdem, in diesem Dorf gab es eine Atmosphäre des Todes. Etwas war passiert, das war klar.
Celia fielen wieder die gruseligen Geschichten ein, die man den Elfenkindern erzählte, um sie daran zu hindern, sich den Menschen zu nähern. Die Geschichten der Elfenhelden, die gegen die Menschen kämpften, um den Wald zu verteidigen. Die Menschen waren damals immer tiefer in den Wald eingedrungen und hatten angeblich wahllos jeden Elfen getötet, der ihnen begegnet war.
Ihre Schritte wurden immer langsamer, sie hatte gerade erst die ersten zwei Häuser hinter sich gelassen. Fast so, als würde eine unbekannte Macht sie davon abhalten, tiefer in das Dorf vorzudringen. Nun, bei dieser ominösen Macht handelte es sich wohl eher um zunehmende Angst. Doch diese Angst war absolut irrational und hatte nicht das geringste mit der Wirklichkeit zu tun. Celia verfluchte ihre Angst. Sie zeigte sich immer in den Momenten, in denen sie sie am wenigsten gebrauchen konnte.
Plötzlich stolperte sie. Sie hatte gerade mit ihren Blicken die Häuser nach irgendetwas Ungewöhnlichem abgesucht, den Boden hatte sie vollkommen vernachlässigt, und so war ihr eine Unebenheit entgangen. Auf dem Boden liegend fluchte sie erneut, doch diesmal nicht auf ihre Angst, sondern ihre Unaufmerksamkeit. So etwas durfte einer Elfe einfach nicht passieren.
Der Aufprall allerdings war weniger hart, als sie erwartet hatte. Doch das fiel ihr erst nach einigen Sekunden auf. Sie war wieder Erwarten doch nicht auf dem harten Boden gelandet. Im Gegenteil, ihr Kopf lag nun auf etwas Weichem. Das verwunderte sie nun doch. Um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, rappelte sie sich langsam auf und setzte sich. Ihr rechtes Fußgelenk schmerzte. Sie zog es an sich heran und rieb sich es. Glücklicherweise war es nicht verstaucht.
Noch immer konnte sie weder erkennen, was das für eine merkwürdige „Unebenheit“ war, noch, warum sie so weich war. Vorsichtig streckte Celia ihre linke Hand aus und berührte das vor ihr liegende etwas. Es fühlte sich warm an. Und feucht. Irgendwie klebrig. Es ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Wieder vorsichtig und langsam zog sie ihre Hand zurück. Ganz ruhig betrachtete sie ihre Finger, die nun mit einer klebrigen dunklen Flüssigkeit bedeckt waren. Wie in Trance berührte sie mit der anderen Hand die Wange, auf der sie eben noch gelegen hatte. Auch sie war mit der Flüssigkeit bedeckt, warum war ihr das vorher nicht aufgefallen?
Dann schlug die Erkenntnis ein wie ein Blitz: Es war Blut! Augenblicklich, als ob jemand plötzlich eine Fackel angezündet hatte, konnte sie auch erkennen, was da vor ihr lag: eine Leiche! Nein, nicht eine, viele Leichen! Alles war voller Leichen! Panische Angst und Entsetzen stiegen in ihr auf. Ihr Hals war wie zugeschnürt und ihr Atem ging nur noch stoßweise. Es war, als würde sie in den Leichen ertrinken. Sie musste weg. Einfach weg. Benommen stand sie auf, der Schmerz in ihrem Fußgelenk war wie weggeblasen. Eilig stolperte sie durch die zerfetzten Körper zurück. Sie konnte nicht rennen. Ihr war schwindelig. In ihrem Kopf begann alles, sich zu drehen. Überall sah sie nur noch Leichen. Sie erdrückten sie praktisch. Sie musste weg! Weg und sich irgendwo übergeben. Irrsinnigerweise fiel ihr ein, dass das wohl kaum ging, da sie nichts gegessen hatte. Wieso war ihr das nicht vorher eingefallen? Wieso dachte sie in so einer Situation an so etwas? Eigentlich wollte sie doch nur wieder zurück nach Hause, zu ihrer Mutter. Die Tränen, die über ihre Wangen liefen, nahm sie gar nicht mehr wahr.
Die Legenden waren doch wahr. Menschen waren böse. Sie töteten sich sogar gegenseitig! Das konnten nur Menschen gewesen sein. Kein Tier könnte etwas derart böses tun. Auch ein Elf wäre nie zu solcher Grausamkeit fähig. Wieder wunderte sie sich kurzzeitig, dass sie überhaupt noch rational über etwas nachdenken und argumentieren konnte.
Die Gedanken in ihrem Kopf rasten, wurden immer schneller, genauso wie ihre Beine, ohne dass die es bemerkte. Instinktiv rannte sie weg von den Leichen, in Richtung der rettenden Dunkelheit, die jenseits der schemenhaft erkennbaren Häuser lag. Celias gesamte Welt war in diesen wenigen Sekunden komplett zusammengebrochen. Ihr Vater war wahrscheinlich schon vor Jahren gestorben. Selion hatte Recht. Wie war ein Wesen nur zu so etwas fähig? Ihre Gedanken überschlugen sich wieder. Vor sich sah sie einfach nur die Dunkelheit, die Fläche zwischen den vom Mondlicht erhellten Häusern, hastete auf sie zu. Das war die Rettung, dort würde sie wieder atmen können (Keuchte sie nicht schon?). Nur noch ein paar Schritte und—
Sie stolperte. Noch im Fall verfluchte sie erneut ihre Unaufmerksamkeit und fragte sich, ob sie wohl wieder auf einer Leiche landen würde. Alleine bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Dann schlug ihr Kopf auf etwas Hartes.
*
Melanon war schon einige Stunden ununterbrochen geritten, als die Sonne an diesem Tag unterging. Das lag allerdings eher weniger daran, dass er es eilig hatte. Dazu hatte er auch nicht wirklich einen Grund. Genaugenommen hatte er sogar gute Gründe, so viel Zeit wie möglich zu vertrödeln. Und das hatte er bisher auch getan.
Sein Schiff war schon vor einer Woche in Ario angekommen und er hatte erst jetzt die Stelle erreicht, an der er die Straße nach Kraxia verlassen musste. Eine Strecke, die man innerhalb von drei Tagen hätte bewältigen können. Eigentlich hätte er diese Straße auch gar nicht nehmen müssen, um sein „Ziel“ zu erreichen. Sein „Zuhause“. Aber schließlich wollte er ja noch seinen alten Freund Oreas besuchen, den er schon seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Erst dann würde er sich auf den Weg „nach Hause“ machen. Sein Vater würde wieder wütend sein.
Aber war das nicht so oder so der Fall? Auch wenn Melanon immer noch die Kleidung der Magier trug (eine lange, graue Kutte) und auch seine Bücher und Zauberutensilien hatte behalten dürfen, so war er doch kein Magier. Nicht, dass er jemals einer gewesen wäre. Er war lediglich ein Schüler, wenn auch ein außergewöhnlich begabter, auf Perelos, der Insel der Magier, gewesen. Doch nun hatte er nach Jahren auf der abgeschiedenen Insel die Schule vorzeitig verlassen müssen. Eine Tatsache, die ihm nicht wirklich leid getan hätte, wäre da nicht sein Vater gewesen. Oh ja, er würde toben. Auch wenn er das Unvermeidliche durch seinen Besuch bei Oreas nur herauszögerte, sah er trotzdem keinen Grund, sich mehr als nötig zu beeilen. Schließlich war das die einzige Möglichkeit, seinen Kopf noch etwas länger zu behalten.
Nun stand Melanon jedenfalls vor einer schweren Entscheidung: Sollte er die Nacht hindurch weiterreiten, bis er das Haus seines Freundes erreichte, oder sollte er sich hier eine Unterkunft für die Nacht suchen? Schlussendlich entschied er sich für letzteres. Das hatte zwei Gründe. Zum einen war er schon so müde, da er dank seiner Alpträume nicht sehr gut schlief, dass ihm seine schwere Tasche schon mehrmals beinahe hinuntergefallen wäre, und zum anderen erinnerte er sich an ein Dorf, dass sich hier in der Gegend befinden musste.
Also gähnte er noch ein letztes Mal, bevor er seinem Pferd die Sporen gab, um der Straße noch ein Stück zu folgen und das Dorf zu suchen.
Es dauerte auch nicht lange, bis er erleichtert die ersten Häuser ausmachen konnte. Doch diese Erleichterung wandelte sich schnell in Besorgnis um. Es war zu still und außerdem brannte nirgends Licht. Schlagartig war Melanon wieder hellwach. Er glaubte kaum, dass das Dorf verlassen wurde. Es war das einzige in der Gegend und sicher wären die Häuser schon längst verfallen oder auseinandergenommen (Baumaterial war in dieser Gegend selten) worden. Als Arqua dann auch noch scheute, kurz bevor sie das Dorf erreichten, war er sich endgültig sicher. Etwas schlimmes musste passiert sein. Sein Pferd hatte nach so vielen Jahren auf der Insel der Magier eine Art sechsten Sinn für so etwas entwickelt. Sicherheitshalber stieg er ab und nahm Arqua bei den Zügeln.
So vorsichtig wie möglich näherte er sich dem Dorf, und als er zwischen den ersten Häusern stand, entdeckte er einen Schatten auf dem Boden vor sich. Er hatte einen schrecklichen Verdacht, der sich unglücklicherweise auch bewahrheitete. Vor ihm lag ein Mann, etwas Mitte dreißig. Sein Gesicht war zu einer angsterfüllten Fratze verzerrt. Aus seinem Rumpf ragte ein Speer, der ihn eindeutig niedergestreckt hatte, doch an den anderen Schnittwunden an Armen und Oberkörper konnte man deutlich sehen, dass er vorher noch gefoltert worden war. Vermutlich von Männern zu Pferde, da die Beine bis auf einige Schürfwunden (er war wohl öfters hingefallen) unversehrt geblieben waren. Wahrscheinlich war das das Werk von Banditen. Melanon hatte schon gehört, dass sie hier im Norden immer häufiger die kleinen Dörfer plünderten (und nebenbei dem Erdboden gleich machten). Er war also nicht wirklich überrascht. Der Mann hatte zwei bis drei Stunden so dagelegen, also blieb ihm nichts übrig, außer seine Augen zuzudrücken und ein Gebet zu sprechen. Er seufzte schwer, bevor er sich wieder erhob.
Es bestand schließlich noch die Möglichkeit, dass sich hier irgendwo Verletzte befanden, die sich noch in einer der Häuser hatten retten können. Er ging weiter und führte Arqua hinter sich her. Geschickt wich er dabei immer wieder den auf dem Boden liegenden Toten aus. Würde er sich bei jedem die Zeit nehmen, ein Gebet zu sprechen, wäre er die ganze Nacht beschäftigt. Trotzdem, der Anblick ließ ihn nicht kalt. Als er eine Gruppe kleiner Kinder sah, denen wohl das Genick gebrochen wurde (keine anderen sichtbaren Verletzungen), verzog er das Gesicht. Alles, was er noch fühlen konnte, waren Abscheu und Ekel. Wer war nur zu so etwas fähig? Offenbar war nicht ein Dorfbewohner am Leben geblieben. Und selbst wenn, so würde er ihn sicherlich nie finden. Musste er sich also mal wieder der Magie bedienen? Es wurmte ihn, aber eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht. Plötzlich blieb er stehen. Arqua starrte ihn erst irritiert an, dann verstand das Pferd.
Melanon nahm seine ganze Konzentration und verwandte sie darauf, seinen Geist auszuweiten, bis er das gesamte Dorf erfasste. Dabei hielt er Ausschau nach einem lebenden Wesen, fand aber nur ein paar Mäuse und anderes Getier. Er wollte gerade aufgeben, als er am Rande des Dorfes eine Aura wahrnehmen konnte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf diese Aura. Ja, da war eindeutig jemand am Leben, etwa fünfzig Meter vor ihm musste jemand sein!
Langsam bewegte sich Melanon in diese Richtung, immer noch Arqua hinter sich her ziehend. Plötzlich stutzte er. Da war ein weißer Schimmer, der irgendwie nicht in dieses Dorf zu gehören schien. In Dörfern wie diesem gab es nichts weißes. Weder die Stoffe der Kleider, noch die Haut der Menschen hier konnte so weiß sein. Er wurde neugierig. Irgendetwas sagte ihm, dass es sich bei diesem jemand um die Aura handeln musste. Er ließ Arquas Zügel los und näherte sich langsam der Gestalt auf dem Boden, bis er schließlich erkannte, wen, beziehungsweise was, er da vor sich hatte. Es war eine Elfe. Eine Elfe?! Melanon runzelte die Stirn. Höchstwahrscheinlich eine Waldelfe, die Wind-, Wasser-, Feuer- und Erdelfen kamen praktisch nie in diese Gegend, nur der Elfenwald lag nah genug. Aber was hatte eine Elfe hier zu suchen? Er kannte nur einen Waldelfen und der hatte ihm erzählt, dass die Waldelfen sich vor den Menschen fürchteten und dass sie niemals ihren Wald verließen. Nun ja, darüber konnte er später immer noch nachdenken. Erst einmal musste er feststellen, wie es der Elfe ging.
Sie lag schräg auf der Seite, war aber auf den ersten Blick unverletzt. Auf den zweiten Blick entdeckte Melanon dann den Blutfleck in ihren weißgrauen Haaren. Ihr rechter Fuß hing unter dem Arm einer Leiche fest. Vermutlich war die Elfe genau wie er in das Dorf gekommen und hatte dann die Leichen entdeckt. Für sie musste es ein ungleich größerer Schock gewesen sein, denn soweit er sich erinnerte, war es im Elfenwald absolut friedlich und keine Erzählung hätte sie auf das Geschehene vorbereiten können (schließlich fürchteten die Elfen die Menschen). Er hatte zwar auch abgeschlossen vom Rest der Welt gelebt, aber immerhin wurden die Magierschüler regelmäßig mehr oder weniger gut über das Geschehen auf Derlova unterrichtet.
Nachdem sie die Leichen entdeckt hatte, musste das Mädchen in Panik geflohen sein und hatte dabei nicht auf ihren Weg geachtet. Andernfalls wäre sie niemals gestolpert. Dafür waren die Elfen einfach viel zu geschickt. Der Aufprall war vermutlich so hart, dass sie das Bewusstsein verlor. Womöglich hatte sie eine Gehirnerschütterung und einen Schock. Neben ihr entdeckte Melanon eine Tasche, die augenscheinlich aus dem gleichen Stoff wie die Kleidung der Elfe gefertigt wurde.
Vorsichtig drehte er die Elfe auf den Rücken. Sie war noch recht jung, was ihn überraschte, etwa in seinem Alter, soweit man das bei Elfen beurteilen konnte. Natürlich konnte sie auch bis zu zehn Jahre älter sein. Was hatte ein so junges Elfenmädchen bloß in der Menschenwelt zu suchen? Auf jeden Fall war sie nicht durch Zufall hier gelandet, immerhin hatte sie Gepäck dabei. Ob sie auch eine Forschungsreisende war?
Behutsam schob Melanon seine Arme unter ihren Körper und hob sie dann langsam hoch, wobei er darauf achtete, dass ihr Kopf keinen ruckartigen Bewegungen ausgesetzt wurde. Diese Aktion konnte ihren Zustand verschlimmern, aber schließlich konnte er sie ja auch schlecht einfach zwischen all den Leichen liegen lassen. Und hier konnte er ihr nicht helfen. Er hatte einfach nicht die nötigen Verbände und Kräuter dabei.
Nun musste er mit dem Mädchen in den Armen zu Arqua gelangen, ohne über die Hindernisse auf dem Boden zu stolpern. Leise fluchte er, dann fiel ihm ein, dass ihn so oder so niemand hören konnte. Er hätte erst Arqua hohlen und sie dann in die Arme nehmen sollen. Nun ja, jetzt war es zu spät. Sie noch einmal hinzulegen und dann wieder hochzuheben war ebenso anstrengend. Also tastete Melanon sich immer mit einem Fuß vor, da er ja nicht sehen konnte, was da vor ihm lag. Sein Pferd beobachtete ihm argwöhnisch. Es musste aber auch wirklich zu lächerlich aussehen. Als er (endlich) neben seinem Pferd stand und die bewusstlose Elfe in den Sattel gehievt hatte (auch wenn er nicht wirklich wusste, wie er dieses Kunststück fertig gebracht hatte), keuchte er schon. Auch wenn die Elfe an sich relativ leicht gewesen war, die gesamte Prozedur hatte es in sich. Jetzt musste er sich nur noch die Tasche um die Hüften binden, damit er sie nicht doch noch verlor und sich selber in den Sattel setzten, ohne dass das Mädchen herunter fiel. Zum Glück blieb Arqua die ganze Zeit ruhig und vertraute seinem Herren.
Gerade, als er endlich zusammen mit der Elfe sicher im Sattel saß, fiel sein Blick auf etwas weißes einige Meter weiter vorne. Der Rucksack! Gequält stöhnte er auf. Das durfte doch nicht wahr sein. Jetzt musste er noch einmal ab- und aufsteigen. Er versuchte vorsichtig, aus dem Sattel zu steigen, doch eine seiner Bewegungen ließ das Mädchen vor ihm bedrohlich schwanken. Es blieb ihm wieder nichts anderes übrig, als schon wieder Magie einzusetzen. Nun ja, wenigstens zu etwas war die Folter, die sich Erziehung nannte gut gewesen.
Langsam streckte er seine linke Hand aus und deutete mit ihr auf den Rucksack. Auf ein grob gezeichnetes Dreieck und ein gemurmeltes Wort hin schoss das Gepäckstück in seine Hand. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf Melanons Gesicht. Magie hatte eben doch auch ihre guten Seiten (auch wenn er es nicht gerne zugab), selbst wenn man sie nie hatte erlernen wollen und sie auch eigentlich nicht mehr benutzen durfte.
Er hängte den Rucksack auf seine andere Seite und wandte sich dann dem nächsten Problem zu. Irgendwie musste er es schaffen, Arqua sicher durch die Leichen zu lotsen. Das letzte, was er jetzt gebrauchen könnte, wäre ein verletztes Pferd. Irgendwie schaffte er es auch, obwohl das wohl eher seinem Pferd als seinen Reitkünsten zu verdanken war. Als sie endlich den Ausgang des Dorfes erreichten, war Melanon zum Umfallen müde. Magie hatte eben auch ihren Preis, vor allem, da immer noch der Bann auf ihm lag. Schließlich hatten die Ältesten sicher gehen wollen, dass er nie wieder in der Lage war, Magie anzuwenden. Wie sich zeigte, war es ihnen aber nicht so ganz gelungen. Nun war es jedenfalls zu spät. Er würde sich wohl kaum ausruhen können, bis sie Oreas erreichten. Und das würde noch dauern. Ob er so lange durchhalten würde? Nicht, dass er eine Wahl hatte.
Er seufzte noch einmal, bevor er Arqua die Sporen gab. Wenn sie sich beeilen würden, wären sie im Morgengrauen da. Vorausgesetzt das Pferd und er würden durchhalten. Und er würde den Weg finden. Es war schließlich schon eine Ewigkeit her, dass er das letzte Mal hier war. Glücklicherweise konnte man sich hier in der Ebene einigermaßen an den Sternen orientieren. Das Wetter war immer noch vergleichsweise gut und dank dem Mond konnte man Hindernisse auch rechtzeitig erkennen. So konnten sie schnell reiten.
Und tatsächlich erreichten sie noch vor Sonnenaufgang Oreas Holzhütte am Rande eines kleinen Dorfes. Ein kleines Wunder. Dieses Wunder hatte Melanon und Arqua allerdings alles an Kraft abverlangt, was sie noch besaßen. Melanon konnte kaum noch seine Augen offen halten und immer wieder fielen sie ihm zu, während Arqua schweißbedeckt war und schon leicht zitterte.
Mit seiner letzten Kraft stieg Melanon aus dem Sattel und nahm die Elfe in die Arme. Er schaffte es auch bis zur Tür und wollte gerade anklopfen, als sie sich von selber öffnete. Im Türrahmen stand Oreas und blickte seinen Freund erst ein paar Sekunden lang überrascht und verwirrt an, bevor er begriff, wer da vor ihm stand. Dann nahm er ihm erst einmal die Elfe aus den Armen und trat ein wenig zur Seite, um den Weg nach innen freizugeben.
Melanon lächelte noch schwach und stolperte hinein, ohne ünberhaupt über das nachzudenken, was der tat. Er handelte nur noch mechanisch und fand ganz von selbst den Weg in ein Zimmer mit Bett (Oreas’ Zimmer) und ließ sich in die Laken fallen. Ohne überhaupt einen Gedanken an Oreas und das Elfenmädchen zu verschwenden rollte er sich auf die Seite und schloss die Augen. Er war fast augenblicklich eingeschlafen, ohne auch nur ein erklärendes Wort zu sagen.