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Rodo, 2023

Kapitel I: Im Elfenwald

Ein Wagen fuhr durch den Elfenwald. Er war schon recht alt, das Holz hatte an einigen Stellen Risse und das Metall war schon stark verrostet. Gezogen wurde er von einem braunen Wallach, dem man sein Alter ebenfalls deutlich ansah. Um die Ladung zu schützen, hatte sein Besitzer eine Plane über sie gespannt. Der Wagen gehörte einem Händler. Er war nicht reich, so musste er den Wagen auch selber führen. Er war dazu gezwungen, durch den Wald zu fahren. Kein Händler tat das gern. Deshalb war die einzige Straße durch den Wald auch schlecht ausgebaut. Plötzlich scheute das Pferd. Es bäumte sich auf. Nur mit Mühe gelang es dem Kutscher, es wieder zur Ruhe zu bringen. Das Pferd spürte sie, eine Elfe musste in der Nähe sein. Auch der Kutscher spürte die Blicke, die ihn verfolgten, sie machten ihn nervös. Es gab aber keinen Grund, sich zu fürchten, das wusste er. Die Elfen wagten sich eigentlich nie in die Nähe der Menschen. Trotzdem hatte jeder Mensch, der sich in den Elfenwald begab, ein mulmiges Gefühl im Bauch. Langsam fiel die Beunruhigung vom Händler ab. Der Waldrand war nahe. Die Elfen kamen nie bis zum Waldrand. Auch der Braune wurde nun langsam ruhiger. Erleichtert seufzte der Kutscher, als er das Ende des Waldes sah.

*

Traurig blickte Celia dem Wagen nach, als er den Waldrand erreichte. Sie seufzte, denn sie wusste, sie würde nie so viel über die Menschen wissen, wie sie gerne würde, schließlich war es den Elfen verboten, den Wald zu verlassen. Sie seufzte erneut und wandte schweren Herzens den Blick von dem in der Ferne verschwindenden Wagen ab. Wie gerne wäre sie ein Stückchen weiter gegangen, nur ein kleines Stückchen, doch sie stand bereits auf dem Grenzpfeiler, einem grob behauenen großen Felsen, der etwa halb so hoch wie die Bäume um ihn herum war. Er erinnerte entfernt an einen sitzenden Elf.

Celia kostete es viel Überwindung, vom Grenzpfeiler herunterzuklettern, aber sie wusste, dass es schon spät war. Sie musste sich unbedingt auf den Rückweg machen. Am Waldboden angekommen fuhr sie sich erst einmal prüfend durch das Haar um festzustellen, ob irgendwelche Blätter in ihren silbergrauen Haaren steckten. Das war zum Glück nicht der Fall. Es hätte sonst viel länger gedauert, sich fertig zu machen.

Sie konnte sich immer noch nicht dazu durchringen, sich zu beeilen. Langsam schlenderte Celia an einem kleinen Bach entlang und machte immer wieder halt, um einen Frosch zu beobachten oder eine seltene Blume zu betrachten. Nach einigen Minuten gab sie wieder auf und setzte in den Schatten eines alten Baumes. Von ihrem Sitzplatz aus saß sie direkt gegenüber von einem anderen Baum. Die eine Hälfte der alten Eiche wuchs normal, doch der zweite mächtige Ast lag auf dem Boden. Er war verkohlt, man konnte es immer noch erkennen, obwohl der Ast schon halb verwittert war. Celia wusste nur zu genau, wann das passiert war. Es war ein Sturm gewesen, vor zehn Jahren, im Frühsommer. Die junge Elfe konnte sich noch genau an diesen Tag erinnern. Sie hatte vieles von dem, was passiert war, vergessen, aber sie wusste noch genau, was sie gefühlt hatte, als sie erst zwischen den Bäumen saß, als dann der Sturm aufhörte und sie auf den Baum kletterte und als sie schließlich zwischen den Felsen kauerte. Äußerlich fiel es kaum auf, dass es diesen Sturm jemals gegeben hatte, aber wenn man sich Mühe gab und nur genau genug hinsah, sah man seine Spuren überall, dabei hatte sich der Wald, auch dank der Hilfe der Elfen, schnell erholt.

Wie lange war es nun eigentlich her, wann sie das letzte Mal an den Sturm gedacht hatte? Celia wusste es nicht mehr. Es war schon sehr lange her. Früher hatte sie ständig an ihn gedacht. Er war das wichtigste Ereignis in ihrem Leben. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie hatte so lange nicht mehr an ihn gedacht. Es war, als hätte sie sich selbst vergessen.

Weiter kam Celia jedoch nicht. Sie hörte, wie von weitem jemand ihren Namen rief. Es war Selion. Er würde sie für ihr Verhalten tadeln, doch eigentlich war es ihr egal. Wenn man es genau betrachtete, waren ihr die meisten Dinge in letzter Zeit egal.

„Ich komme ja!“, rief sie schließlich resigniert. Sie dachte allerdings immer noch nicht daran sich zu beeilen. Als Selion schließlich mit hochrotem Kopf vor ihr auftauchte, konnte sie nicht anders als lächeln. Es war auch einfach zu niedlich, dass er immer meinte, auf sie aufpassen zu müssen. Das Lächeln machte ihn noch wütender. Er schien nun fast zu explodieren.

“Celia! Verdammt, beeil dich endlich! Du musst dich noch umziehen. Warum kannst du auch nicht einmal pünktlich sein? Immer verschwindest du einfach so ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen“, begann Selion seine Standpauke. Er redete über Minuten, für Celia schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, und bemühte sich, ihr klar zu machen, wie wichtig Verantwortung sei und dass sie diese endlich zeigen solle. Celia lächelte bloß müde vor sich hin, während sie langsam ihrem Freund hinterher trottete, und hatte bereits nach den ersten paar Sätzen aufgehört, ihm zuzuhören. Sie kannte Selions Strafpredigten sowieso zu Genüge. Schließlich bekam sie mindestens einmal in der Woche eine zu hören.

Eigentlich benahm sich ihr Freund mehr wie eine Mutter, kam es ihr in den Sinn. Immer passte er auf sie auf und versuchte, sie vor sich selbst zu beschützen. Ihre richtige Mutter hatte das schon längst aufgegeben. Sie hatte ihr schon lange nicht mehr die Leviten gelesen. Wie lange war es eigentlich schon her? Während Selion unberührt fortfuhr, begann Celia über diese Frage nachzugrübeln. Wie lange? Sie konnte sich nicht erinnern. Früher belehrte ihre Mutter sie oft, aber dann … hatte sie aufgehört. Nur wann bloß? Wann hatte sie aufgegeben? Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: der Sturm! Seit diesem Tag hatte ihre Mutter sie auf irgendeine nicht zu definierende Art und Weise aufgegeben. Sie hatte sie als sie selbst akzeptiert und nicht mehr versucht, sie zu ändern. Und dafür war Celia ihr dankbar. Predigten waren ihr lästig und sie brachten auch nie etwas. Sie war ein Wildfang und daran würde sich auch kaum etwas ändern lassen.

„Hast du wieder die Menschen beobachtet?“, drang Selions Stimme in ihre Gedanken ein. Er hatte seinen Vortrag beendet und gedachte nun, den nächsten zu beginnen. Er kannte die Antwort. Doch schien er auf Celias Antwort zu warten. Also seufzte sie erst einmal tief, bevor sie kaum merklich nickte. Doch Selion hatte es bemerkt.

Wie erwartet folgte der nächste Vortrag seinerseits: „Du weißt genau, dass das strengstens verboten ist!“ Ja, das wusste sie genau. Sie tat es trotzdem immer wieder. Dem weiteren Vortrag über die Gefährlichkeit der Menschen und ihre Vorbildfunktion folgte sie wieder nicht (Sie kannte ihn ja bereits auswendig.) und wurde immer langsamer. Während er redete, bemerkte Selion nicht, dass sie immer weiter zurückfiel. Erst, als er bereits zehn Meter Vorsprung hatte, drehte er sich zu Celia um.

Diese lief gerade seelenruhig den Pfad entlang und betrachtete geistesabwesend die kleinen Blümchen am Wegesrand. Ihr entging sogar, dass Selion aufgehört hatte zu reden und wieder rot angelaufen war. Sogar der eigentlich unübersehbare Kontrast zwischen seinen blassgrünen Haaren und seinem roten Gesicht riss sie nicht aus ihren Gedanken.

„Celia!“, der Ruf ließ die Angesprochene hochschrecken, „Jetzt beeil dich endlich oder willst du zu spät zum 200. Geburtstag deiner Großmutter kommen?!“ Nichts hätte sie lieber getan, doch Selion packte ihre Hand und zerrte sie wütend hinter sich her. Wenigstens fing er nicht wieder an zu schimpfen.

*

Im Wasser des flachen Teiches überprüfte Celia noch einmal ihre Frisur. Alles saß mehr oder weniger am richtigen Platz, obwohl sie sich hatte beeilen müssen. Um genau zu sein interessierte es sie noch nicht einmal wirklich, ob jede Strähne ihres silbergrauen Haares auch dort war, wo sie hingehörte. Ihre Frisur war ihr absolut egal. Sie überprüfte es eigentlich mehr aus Reflex. Geistig war sie nicht anwesend, auch wenn sie selber nicht wusste, wo genau sie sich befand.

Im Wald hatte sie noch ein schlichtes Wams aus weißem Stoff mit einigen silbernen Verziehrungen getragen. Sie musste es auf Wunsch ihrer Mutter gegen ein blassviolettes Kleid eintauschen. Vom Stil her war es ebenfalls sehr schlicht, nur um die Hüfte war es mit einer Blumenstickerei verziert. Cilea hatte das Kleid nach langem hin und her (Celia durfte alle anderen Modelle auch anprobieren und war damit einen Nachmittag beschäftigt) ausgesucht, da es ihrer Ansicht nach perfekt zu den silbergrauen Haaren und violetten Augen ihrer Tochter passte. Sie hatte damit wohl auch recht, doch wäre ihre Tochter am liebsten mit dem ersten Kleid (es war hellgrün) gegangen, da sie ihre Zeit nicht mit derartigen Dingen verschwenden wollte.

Der Teich an dem die junge Elfe nun saß, lag inmitten des Palastes der Elfen, sofern man die Ruine eines Palastes noch als solchen bezeichnen konnte. Lediglich Teile der Grundmauern waren noch erhalten und an den meisten Stellen mit Moos überwuchert. In der Mitte hatte sich irgendwann ein Teich gebildet, aus dem stellenweise noch die eine oder andere Säule oder Statue, meistens konnte man das nicht mehr erkennen, herausragte. Celia hatte in den alten Büchern viel über den Palast und seine einstige Pracht gelesen. Es gab sogar einige Abbildungen. Er hatte mehrere „Stockwerke“, was in etwa soviel bedeutete, dass es mehrere Zimmer übereinander gab, und an den Wänden des größten soll es Bilder der Geschichte der Elfen gegeben haben. Immer wieder stellte sich Celia vor, wie es wohl war, durch den Palast zu schlendern und die großen Bilder zu betrachten. Es tat ihr unendlich leid, dass ihre Vorfahren irgendwann einfach aufgehört hatten, sich um den Palast zu künmern, den schließlich die ersten Elfen, die in diesem Wald siedelten, gebaut hatten. Ihr waren nur die Bücher geblieben. Auch wenn sie es liebte, im Wald herumzustreunen, immer wieder zog es sie zu den Büchern, die sie in eine ganz andere Welt bringen konnten. Alleine die Vorstellung eines „Gebäudes“! Noch nie in ihrem Leben war Celia in einem gewesen. Alles was sie kannte, waren die Plattformen in den Bäumen, die nur bei Regen überdacht waren und die noch nicht einmal Wände besaßen.

Der Palast, wenn man die kleine Lichtung denn so nennen wollte, wurde von den Elfen kaum noch genutzt. Lediglich zu großen Festen versammelten sie sich an diesem Ort. Der 200. Geburtstag von Celias Großmutter war ein solches Fest. Es geschah nur selten, dass eine Elfe dieses Alter erreichte und Celias Großmutter Diohicea war immerhin die Königin.

Celia mochte die Feste nicht. Einerseits hasste sie es, sich herauszuputzen, andererseits kam sie sich immer enorm deplaziert vor. Alle taten so vornehm und handelten nach genauestens festgelegten Regeln. In dieser Welt fand sie sich einfach nicht zurecht. Erst wenn es um Bücher, Menschen oder am besten gleich beides ging, blühte sie auf. Das war ihre Welt.

Schwer seufzend riss sie sich vom hypnotisierenden Anblick der kleinen Fische im Teich los und stand auf, nur um sich auf die Bank zu setzen, die am weitesten vom Zentrum des Geschehens entfernt stand. Die Bänke waren am Rand des „Palastes“ aufgestellt worden und in ihrer Mitte saß Diohicea. Von ihrem neuen Sitzplatz aus beobachtete Celia das Treiben. Skeptisch betrachtete sie ihre Großmutter, die von den wichtigsten Familien Geschenke entgegennahm und sich freundlich mit allen unterhielt, und ihre Mutter, Onkel und Tanten, die um sie herumstanden und ebenfalls freundlich mit allen redeten. Besonders mit Cilea wollten dieser Tage viele reden. Heute würde sie, das jüngste Kind von Diohicea, neue Königin werden. Ihre Mutter hielt sie von all ihren Kindern für am geeignetsten. Auf irgendeine nicht zu bestimmende Weise widerte Celia das Schauspiel an. All diese Elfen, die in ihren Augen absolut nichtige Dinge taten und dabei allen vorspielten wie schön doch alles war. Celia verstand sie einfach nicht.

Um nicht noch wütender zu werden wandte Celia ihren Blick von den redenden und sich amüsierenden Elfen ab und starrte stattdessen lieber zum Teich. Fast augenblicklich fing sie wieder mit ihren Tagträumereien an. Sie träumte von den Abenteuern aus der Zeit, in der Elfen und Menschen Derlova noch nicht bevölkerten. Von den alten Legenden, die von den vielen Gefahren berichteten, die Elfen und Menschen gemeinsam auf ihrem Weg zu dieser Insel bestanden hatten. Diese alten Legenden zeigten ein grundsätzlich anderes Bild von den Menschen als die späteren. In der Legende der Reise beschützten die Menschen die Elfen immer, da sie besser kämpften. In den späteren Legenden der Elfenhelden waren die Menschen zu Monstern degradiert worden, deren einziges Ziel darin bestand, den Wald niederzubrennen und so alle Elfen zu vernichten. Celia konnte sich beim besten Willen nicht erklären, wie es zu einer solchen Veränderung der Menschen hätte kommen können. Es musste einen Grund geben. Hinzu kam noch, dass sie die Menschen noch nie hatte brandschatzen und morden sehen.

Kein anderer Elf teilte Celias Ansichten, bis auf einen – ihren Vater. Obwohl sie ihn nie gesehen hatte, dachte sie viel an ihn. Die anderen Elfen, besonders ihre Mutter, sagten ihr immer wieder wie ähnlich sie ihm doch sei (wobei das im Allgemeinen nicht positiv gemeint war). Nur ihre Mutter fand aus unerfindlichen Gründen auch positive Seiten an Toheras. Er sei mutig gewesen und wissensdurstig – ebenso wie Celia. Äußerlich glich Celia schließlich mehr ihrer Mutter.

Celia vergötterte ihren Vater. Sie bewunderte ihn für den Mut, den er bewiesen hatte, als er als erster Waldelf seit Jahrhunderten den Wald verlassen hatte. Damals, vor zwanzig Jahren, hatte er es sich trotz des Verbotes und der Überredungskunst seiner Freunde nicht nehmen lassen, sich sein eigenes Bild über die Menschen zu machen. Celias Mutter, seine Verlobte, konnte Toheras auch nicht zum Bleiben überreden, doch bevor er ging, versprach er ihr, er würde eines Tages zuräckkommen. Er ging damals ohne zu wissen, dass Cilea ein Kind erwartete.

All die vergangenen neunzehn Jahre ihres Lebens hatte Celia dem Tag entgegengefiebert, an dem Toheras endlich zu ihr zurückkommen würde. Er war der Einzige, dem sich die junge Elfe wirklich verbunden fühlte, er war mehr Seelenverwandter als Vater. Sie träumte davon, wie er sie in die Arme nehmen und ihr von seinen Abenteuern und Erfahrungen bei den Menschen erzählen würde. Sicher hatte er in den zwanzig Jahren unglaublich viel erlebt.

„Na, hast du wieder mal Tagträume?“, weckte sie Selions Stimme unsanft. Da er knapp hinter ihr stand, erschrak sich Celia, ließ sich aber nichts anmerken. Er pflegte sie öfter auf diese Art und Weise in die Realität zurückzuholen.

Mit einer eleganten, federnden Bewegung setzte Selion sich nun neben sie. Nachdenklich besah sie sich nun sein Gesicht. Er war ihr bester Freund, und das nun schon seit Jahren, womit er ein gewaltiges Durchhaltevermögen demonstrierte. Genaugenommen war er auch mehr ein Bruder denn ein Freund und sie kannte ihn seit sie denken konnte. Er war ein paar Jahre älter als sie und damit auch um einiges erwachsener. Obwohl das wohl eher weniger an ihrem Alter lag. Selion hatte sie immer beschützt, nicht, dass es im Elfenwald etwas gab, wovor man sie hätte beschützen müssen. Außer ihr selbst natürlich. Niemand wusste so gut wie Selion, wie ähnlich Celia ihrem Vater war. Bei seinem Versuch sie zu beschützen hatte er sich schon des Öfteren den einen oder anderen Kratzer zugezogen. Tief in seinem Inneren fürchtete er sich vermutlich davor, dass sie Toheras eines Tages folgen würde und er dann nicht mehr auf sie aufpassen könnte.

„Woran hast du denn diesmal wieder gedacht?“, fragte er freundlich, keine Spur mehr von der aufgebrachten und Standpauken haltenden Person. Celia wunderte sich immer wieder über diese plötzlichen Stimmungsumschwünge seitens ihres Freundes, doch dank der Tatsache, dass sie es ja nun doch noch rechtzeitig geschafft hatten, war er wohl um einiges entspannter, um nicht zu sagen zufrieden mit sich.

„An Vater“, war ihre knappe Antwort. Ihr Blick wanderte wieder zu ihrer Mutter und Großmutter. Ihre Mutter hatte keine anderen Kinder außer ihr. Würde sie es sein, die auf ihre Mutter folgen würde? Bei diesem Gedanken lief es Celia kalt den Rücken hinunter.

Selion seufzte. „Du solltest dir nicht so viele Gedanken über ihn machen. Er ist schließlich tot. Sonst wäre er doch längst zurück.“

Celia war wie erstarrt. Noch nie hatte es jemand gewagt, diesen Gedanken ihr gegenüber offen auszusprechen. Sie wusste, dass alle so dachten, aber dass Selion es aussprach, machte sie im ersten Moment bestürzt und schließlich wütend. Noch nie in ihrem Leben war sie so unendlich wütend auf jemanden. Nur auf wen, auf Selion oder auf ihren Vater, der sie im Stich gelassen hatte.

„Vater ist nicht tot, das weißt du ganz genau!“, schrie sie den verdutzten Selion an. Sie konnte das einfach nicht akzeptieren.

„Woher willst du das wissen? Er wäre doch wieder da, wenn die Menschen ihn nicht getötet hätten!“, auch Selion verlor nun die Beherrschung und schrie, so dass alle Anwesenden ihre Blicke in Richtung der beiden Streitenden lenkten.

„Das ist nicht wahr!“ Es konnte einfach nicht wahr sein. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen zu sammeln begannen. Celia presste die Lippen zusammen, sprang auf und rannte aus dem Palast so schnell sie nur konnte, vorbei an all den anderen Elfen, die ihr verdutzt nachsahen.

Sie war so wühend auf Selion. Noch nie hatte sie sich so mit ihm gestritten, aber eigentlich war nicht er das Ziel ihrer Wut.

Nach der kurzen Unterbrechung fuhren die Elfen fort wie geplant. Celia verpasste die Krönung ihrer Mutter, doch es war ihr egal. Ihr war alles egal. Ihr Vater war noch am Leben. Es gab einen einfachen und logischen Grund, aus dem er nicht zurückkehren konnte. Sie wusste es. Es musste einfach so sein. Selion und all die anderen waren im Unrecht. Die Menschen waren nicht so, wie sie es glaubten. Sie hätten ihrem Vater nie etwas getan und ihr Vater hätte sich nicht so einfach umbringen lassen. Er hatte es schließlich versprochen.

Doch die anderen würden sie nie verstehen. Niemand war in der Lage sie zu verstehen. Außer ihm. Wie in Trance war Celia nach Hause gerannt. Ohne zu zögern schmiss sie sich in ihre Schlafkissen. Die Tränen konnte sie nicht länger zurückhalten.

*

Traurig blickte Celia zum Himmel. Sie hatte sich den ganzen Nachmittag die Augen ausgeweint. Irgendwann hatte sie Durst bekommen, also hatte sie etwas getrunken, nur um danach weiterzuweinen. Sie hatte versucht zu schlafen, aber sie konnte es einfach nicht, obwohl sie hundemüde war.

Irgendwann kam dann auch ihre Mutter zurück. Sie kam kurz zu Celia, aber als sie ihre Tochter so auf den Kissen hatte liegen sehen, wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte. Eine Weile stand sie einfach nur hilflos da und schließlich ging sie. Celia hatte sie kaum registriert. Nach ein paar Minuten konnte sie schließlich doch einschlafen, wenn auch unruhig.

Ihr Vater lebte noch. Irgendwo tief in ihrem Herzen wusste Celia das, oder meinte es zu wissen. Während sie so dagelegen und sich die Augen ausgeweint hatte, hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde es allen beweisen und sie würde endlich Klarheit erlangen. Sie würde die Menschen erforschen und ihren Vater suchen. Sie wusste schließlich, dass sie recht hatte.

Ihr Blick war jetzt nicht mehr länger traurig. Sie starrte fest entschlossen, fast grimmig in den Himmel, als sie sich ihren Entschluss in Erinnerung rief. In ihrer Hand hatte Celia einen Rucksack mit den Dingen, die sie mitnehmen wollte. Ein wenig Kleidung zum wechseln, so robust und warm wie möglich. Aus irgendeinem Grund war sie der Meinung, dass es bei den Menschen kälter sein müsste. Vielleicht lag es auch bloß daran, dass die Menschen, die sie bisher gesehen hatte, immer so viel Stoff brauchten, um sich zu schützen. Außerdem hatte sie noch ein Seil, Messer, Besteck (vielleicht hatten die Menschen ja keine Tischmanieren), ein Kochgeschirr und vor allem Proviant dabei. Am wichtigsten war ihr jedoch das Paket aus Wachspapier ganz unten in ihrem Rucksack. Es enthielt Papier, Tinte und Feder, um ihre Forschungsergebnisse festzuhalten.

Um ihren Hals trug sie eine Kette. Der Anhänger, ein Talisman, war noch in der alten Welt geschmiedet worden und hatte eine Form, die Celia immer an eine Eidechse mit Fledermausflügeln erinnert hatte. Die Menschen damals mussten viel Phantasie gehabt haben und sie war der Meinung, es handle sich bei dem eigentümlichen Wesen um einen Schutzpatron. Angeblich war das Metall für die Kette von Sagenwesen namens Zwergen aus den Tiefen der Berge geholt worden. Wie gesagt, viel Phantasie.

Celia blickte immer noch starr in den Himmel. Ihr Nacken verspannte sich schon. Die Sterne verblassten langsam und das nachtschwarz wechselte in ein himmelblau. Das Wetter würde gut werden, wie an den Tagen zuvor auch.

Abrupt wandte sie den Blick wieder ab und sah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. In Richtung ihres Dorfes. Celias Blick wurde wieder nachdenklich und sie kaute leicht auf ihrer Unterlippe. Noch konnte sie zurück. Aber wollte sie das? Sie hatte ein wenig Angst, keine Frage, aber war das allein Grund, nicht zu gehen? Ihr Vater hatte bestimmt auch ein wenig Angst gehabt.

Mit einer erneuten ruckartigen Bewegung blickte sie weg. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunk, um lang und breit über dieses Thema nachzudenken, das hatte sie bereits am Nachmittag, und wenn sie noch länger wartete, würden sie sie finden. Und wenn sie jetzt nicht ging, würde sie niemals gehen, dachte Celia. Also stand sie langsam auf und kletterte vom Grenzpfeiler herunter, wie schon vor nicht einmal einem Tag. Sie trug auch wieder dieselbe Kleidung wie vor dem Fest. Ein schon etwas abgetragenes weißes Wams und das dazugehörige Hemd und ein Paar ehemals weiße (inzwischen braun-grün-weiße) Stiefel. Ihre Haare trug sie auch wieder im Nacken zu einem losen Zopf zusammengebunden.

Als Celia endlich vor dem Grenzpfeiler stand, drehte sie sich noch einmal kurz um, um zu horchen, ob man sie bereits suchte, redete sie sich ein. Dann wandte sie ihrem Dorf endgültig den Rücken zu und rannte bestimmt und ohne sich noch einmal umzublicken in Richtung des Waldrandes, vorbei am Grenzpfeiler. Komisch, ging es ihr durch den Kopf, sie hatte es sich immer schwere vorgestellt, die Welt, die sie kannte zu verlassen.


Nach einer Weile wurde sie wieder langsamer. Sie sollte wohl doch etwas besser auf passen, wer wusste schon, welche Gefahren am Waldrand lauerten. Jetzt, wo sie wieder horchte, fiel ihr auf, wie unnatürlich still es war, als würden die Tiere etwas spüren. Das machte Celia nervös.

Schließlich, nach einer unendlich langen Zeit, wie es ihr vorkam, sah sie die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen hindurchbrechen. Die Bäume standen immer weniger dicht und während sie sich der Ebene immer mehr näherte blickte sie sich neugierig um, auf dass ihr auch ja nichts Neues entging, wie diese seltsame Blume, die im Schatten einiger Bäume wuchs.

Ohne es zu merken stand sie schließlich zwischen den letzten beiden Bäumen, die sie noch von der Ebene, der sie bis dahin nie wirklich Beachtung geschenkt hatte, trennten. Ganz langsam wandte sie den Blick und sah etwas, was sie noch nie gesehen hatte und dessen Anblick ihr die Sprache verschlug. Sie hatte davon gelesen, ja, aber es wirklich zu sehen war etwas völlig anderes. Und plötzlich musste sie an den Sturm denken, wie sie sich gefühlt hatte, als sie die Mauern aus Wind gesehen hatte. Ein unendlich schöner und ängstigender Anblick zugleich. Vor ihr lag der Horizont.

Die Ebene vor ihr war in das goldene Licht der gerade aufgegangenen Sonne getaucht. Einige Bäume standen dunkel ab, aber im Grunde genommen war alles, was Celia sah, mit Gras bedeckt. Sie hatte noch nie so viel Gras gesehen. In einigen Lichtungen wuchs es, aber im Wald war Gras eine Seltenheit.

Celia stand einfach da und starrte mit leicht geöffnetem Mund auf die sich bietende Szenerie, verfolgte jede noch so kleine Änderung hervorgerufen durch den sich ändernden Winkel der Sonneneinstrahlung. Es dauerte lange, bis sie sich endlich halbwegs an den Anblick gewöhnt hatte.

Wie in Zeitlupe blickt sie noch einmal zurück in den Wald. Sie stand an der Scheide zwischen den beiden Welten. Dann blickte sie wieder zum Horizont. Vor ihr lag das Menschenreich. Sie fühlte keine Angst mehr, außer vielleicht diesem niederschmetternden Gefühl, das durch die endlose Weite hervorgerufen wurde. Es war wie bei dem Sturm. Alle Angst wurde von der Neugier verdrängt.

Wie sich ihr Vater wohl gefühlt hatte? Ob er wohl auch dort gestanden und den Horizont betrachtet hatte. Jetzt konnte sie wirklich mit Fug und Recht behaupten, ihm ähnlich zu sein, und das brachte sie zum lächeln.

Ein Stück weiter erblickte Celia eine unbefestigte Straße. Ob es die war, die durch den Elfenwald führte? Celia wusste dass Menschen Straßen öfter benutzten, wie die Elfen die Pfade im Wald, nur dass sie größer waren. Würde sie der Straße folgen, müsste sie logischerweise früher oder später Menschen treffen. Also entschloss sie sich, ihr zu folgen, ohne zu wissen, wohin sie führte. Sie hätte nie gedacht, dass die Welt so groß sein konnte.