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Rodo, 2023

Caronia

A/N: Die ganze Geschichte gibt es jetzt auch im PDF-Format. Achtung, die Datei ist groß.


Prolog: Der Sturm

Am Horizont zogen sich dunkle Wolken zusammen und der Wind blies stärker als sonst in Richtung Südsüdost: Sogar am Waldboden war es relativ windig, obwohl die Bäume dieses Waldes besonders eng standen und normalerweise höchstens ein laues Lüftchen wehte. So wussten auch alle Waldbewohner, dass Unheil bevorstand. Die Tiere hatten sich sichere Verstecke gesucht. Entweder hatten sie in Höhlen Zuflucht gesucht oder sich am Waldboden zwischen die Pflanzen gekauert. Nur hin und wieder konnte man ein Augenpaar in der aufkommenden Dunkelheit aufblitzen sehen.

Die Elfen spürten den näherkommenden Sturm ebenso wie die Tiere. Sie waren verunsichert. Stürme gab es kaum und an diesem Sturm war etwas anders. Etwas war unheimlich. Es war als wäre er durchtränkt mit dunklen Gedanken. Da die Schlafplätze in den Bäumen, die die Elfen sonst benutzten, bei einem Sturm zu unsicher waren, hatten sie sich tiefer in den Wald zurückgezogen. Sie befanden sich nun auf einem schmalen Pfad, der zu den Höhlen, die sich in einem der Hügel befanden, führte. Die Gesichter einiger Elfen blickten mürrisch, viele sahen besorgt aus und einige, besonders die Kinder, waren verängstigt. Sie hatten noch nie einen Sturm erlebt. Jeder wusste, dass mit diesem Sturm etwas nicht stimmte und bei der Aussicht, sich in die Höhlen zu flüchten war ihnen auch nicht wohl. Elfen mochten die Dunkelheit und Enge nicht. Sie brauchten wenigstens die Sterne oder den Mond über ihren Köpfen. Sie liebten die Freiheit.

Nach einer halben Stunde Marsch hatte die Gruppe die größte der Höhlen erreicht. Skeptisch beäugten die Elfen nun den Eingang, der etwa zwei Meter breit und anderthalb Meter hoch war. Er lag leicht verdeckt hinter einem Felsvorsprung und wirkte wie ein schwarzes Loch, das alles verschlucken würde, was sich auf die andere Seite wagen würde. Den Elfen war die ganze Angelegenheit ganz und gar nicht geheuer. Die ersten wichen schon zurück, als schließlich eine von ihnen vortrat. Sie war schon sehr alt und ihr Gesicht war in Falten gelegt, doch trotz ihrer zerbrechlichen Gestalt strahlte sie eine Würde aus, wie kein anderer aus der Gruppe. Ihre Aura, ihre Kleidung und ihre Haltung ließen sie majestätisch erscheinen, und das war sie auch. Sie war die Königin der Elfen, Diohicea.

Die Elfen hielten nun in ihren Bewegungen inne und warteten auf das, was als nächstes passieren würde. Diohicea hob langsam die Hände, um sie zu beruhigen, drehte sich dann in dem selben Tempo langsam um und schritt selbstsicher auf den Eingang zu. Ohne zu zögern betrat sie die Höhle. Die anderen Elfen waren von ihrer Anführerin wie gebannt und starrten auf das schwarze Loch vor ihnen. Schließlich überwanden sie sich selbst und gingen ebenfalls auf den Eingang zu. Zweifelnd und immer wieder zögernd verschwand einer nach dem anderen in der Dunkelheit.

Die Höhle war innen nicht so dunkel wie es von außen schien … Sie lag in einem schummerigen Licht, das von den nassen Wänden und Pfützen auf dem Steinboden reflektiert wurde. Aus allen Ecken und Enden der Höhle hörte man es tropfen. Um etwas besser sehen zu können hatten die Elfen einige Fackeln mitgebracht, die sie nun anzündeten. Sie wurden in allen Ecken der Höhle angebracht. Durch das zusätzliche Licht wurde erst deutlich, wie groß die Höhle in Wirklichkeit war. Allerdings bestand sie aus so vielen einzelnen Teilen, die überall verteilt waren. Ohne das Licht hätten sich die Elfen in dem Labyrinth aus Stalagmiten und Stalaktiten verirrt, das in den verschiedensten Farben schimmerte.

Nach einigen Minuten des Wartens gesellten sich zu den Tropfgeräuschen in der Höhle noch weitere Geräusche von außerhalb. Es rauschte und pfiff, gelegentlich grummelte es auch. Der Sturm hatte also begonnen.

Die Elfen hatten sich in kleine Grüppchen aufgeteilt und auf die einzelnen Teile der Höhle verteilt. Zusammengekauert saßen sie in den Ecken und zitterten vor Angst und Kälte. Einige Kinder hatten begonnen zu weinen. Sie fürchteten sowohl den Sturm als auch die Höhle und die Dunkelheit, die nun jenseits der Fackeln lauerte. Alle waren sich sicher, dass dies kein natürlicher Sturm war. Er war böse und drohte ihre ganze Welt in Schutt und Asche zu legen.

Lediglich Diohicea saß aufrecht in der Mitte des größten Raumes. Sie strahlte Vertrauen und Sicherheit aus, obwohl sie sich ebenfalls fürchtete. Ihr Volk brauchte sie stark. Sie konnte sich die Schwäche einfach nicht leisten. Immer wieder blickte sie in die Runde und sah die verängstigten Gesichter. Sie lächelte und gab ihnen Mut.

Plötzlich erlosch ihr Lächeln jedoch und verwandelte sich in einen besorgten und fragenden Gesichtsausdruck. Eine Frau, außer Atem, der die Angst ins Gesicht geschrieben stand, kam auf sie zu. Diohicea kannte die Frau gut. Sie war ihre Tochter. Cilea war den Tränen nahe und blickte sich immer wieder verzweifelt um, als hätte sie jemand gerufen oder sich etwas in den Schatten bewegt.

„Celia … ich habe sie …“, begann die Frau, „Sie … war noch bei mir, als wir hier ankamen, aber jetzt, ich …“

„Beruhige dich doch erst einmal Kind“, versuchte die alte Frau ihre Tochter zu beruhigen, „Sie wird sicher nur die Höhle erkunden.“ Doch eigentlich glaubte Diohicea selbst nicht an ihre Worte. Ihre Enkelin war, nun ja, ihre Enkelin eben.

„Ich habe sie aber überall gesucht! Sie ist nirgends.“

„Sie hat sich sicher in irgendeinem entlegenen Winkel versteckt, den du übersehen hast. Du kennst sie doch.“

„Nein, ich werde nach draußen gehen und sie suchen. Sie ist in Gefahr!“

„Nein. Du bleibst hier.“ Das war ein klarer Befehl. Cilea konnte ihn nicht ignorieren. Um ihre Tochter zu beruhigen fügte die Königin noch hinzu: „Es geht ihr sicher gut. Du kennst sie doch. Sie kann auf sich aufpassen.“

Resigniert setzte sich Cilea nun neben ihre Mutter. Sie war immer noch zerfressen von Sorge. Um sie zu beruhigen legte Diohicea einen Arm um ihre Tochter. Sie ging wieder in ihrer Aufgabe als Königin auf. Sie spendete allen Sicherheit.

„Erst ihr Vater und dann sie“, murmelte Cilea. Tränen stiegen ihr in die Augen. Schließlich konnte sie auch nicht länger verhindern, dass sie über ihre Wangen flossen und sie begann hemmungslos zu schluchzen. Selbst ihre Mutter konnte nur hilflos zusehen, wie sie zusammenbrach. Diohicea wünschte sich nichts mehr, als jemanden nach draußen zu schicken um ihre Enkelin zu suchen. Aber es war einfach unmöglich. Wie schaffte es dieses Kind nur, sich immer wieder in so gefährliche Situationen zu bringen? Die Königin schüttelte den Kopf und seufzte. Sie konnten nur noch hoffen.

*

Das kleine Elfenmädchen hatte zwischen den Bäumen Zuflucht gesucht. Inzwischen fand sie nichts interessantes mehr an dem Sturm. Er war viel lauter als sie es sich jemals hätte vorstellen können. Trotz des Verstecks schlug ihr immer wieder Regen ins Gesicht.

Als die Elfen an der Höhle angekommen waren, war Celia hin und hergerissen gewesen. Einerseite erschien ihr die Aussicht auf die Erkundung der Höhle verlockend, schließlich hatte sie noch niemals eine betreten, andererseits wollte sie auch unbedingt einen Sturm sehen. Die Furcht der anderen Elfen hatte sie keinesfalls angesteckt. In Celias Augen waren sie alle Feiglinge. Sie fürchteten sich schließlich vor so ziemlich allem, das nicht in ihre schöne Welt gehörte. Celia war schon immer anders als sie. Wenn es etwas Neues gab, war sie die erste, die es in Augenschein nahm. Sie kletterte auf die höchsten Bäume ohne sich vorzusehen, nur um einen Vogel zu beobachten. Sie näherte sich selbst den brummigsten Bären und einmal wäre sie fast den kleinen Wasserfall, der sich in der Nähe ihres Dorfes befand, hinuntergestürzt.

Diesmal allerdings war es anders. Sie verstand nun, wovor die anderen sich so gefürchtet hatten. Zu Beginn des Sturms hatte sie ihn noch faszinierend gefunden. Es hatte ihr unglaublichen Spaß gemacht, sich gegen den Wind zu lehnen ohne umzufallen. Der Regen, der immer wieder in eine andere Richtung geblasen wurde, war in ihren Augen wunderschön. Doch dann kamen die Blitze und mit ihnen der Donner. Es war zwar nicht das erste Mal, dass sie Blitze sah und es donnern hörte, doch dieses Unwetter war anders und das wurde durch die Blitze deutlich. Sie waren bedrohlicher als alles, was Celia jemals gesehen hatte. Plötzlich hatte sich auch der Wind verstärkt und das kleine Elfenmädchen, das nun doch begonnen hatte sich zu fürchten, wäre fast weggeblasen worden. Sie brauchte eine Ewigkeit um sich zu einer etwa zehn Meter entfernten Baumgruppe durchzukämpfen. Zwei Mal wurde sie sogar kurz in die Luft gehoben.

Wieder zuckte ein Blitz und augenblicklich folgte ein ohrenbetäubender Donner. Panisch schlug sich Celia die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zu so fest sie konnte. Sie wollte nichts mehr hören und sehen. Ihr war kalt und sie zitterte unaufhörlich, nicht nur wegen ihrer durchnässten Kleidung, sondern auch wegen der Angst. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Der Sturm wurde immer heftiger und das Mädchen immer verzweifelter. Inzwischen wünschte sie sich nur noch zu überleben, doch sie hatte keine Hoffnung mehr. Durch ihre Hände hindurch hörte sie nun ein unheilvolles Knirschen. Sein Ursprung lag wenige Meter neben ihr. Sie zögerte. Dann öffnete sie ganz langsam ihre Augen, unsicher, ob sie wirklich sehen wollte, woher das Geräusch kam, doch die Neugier siegte. Ihr Blick fiel auf einen Baum direkt neben ihrem Versteck. Er bewegte sich. Ganz langsam, aber sicher, so als ob er noch versuchte, sich gegen sein Schicksal zu sträuben. Dann beschleunigte sich die Bewegung und das Knirschen wurde lauter. Als der Baum schließlich laut krachend auf den Boden fiel, war es, als gäbe es ein Erdbeben. Verzweifelt klammerte sich Celia an einen Baum neben sich. Sie fing an zu weinen, doch durch den Sturm und den Regen konnte man es kaum hören, geschweige denn sehen. Sie wollte nur noch, dass es vorbei war, es sollte einfach vorbei sein. Und dann – ganz plötzlich – war es vorbei.

Ungläubig öffnete Celia die Augen und blickte sich um. Nicht ein Blatt bewegte sich. Lediglich einige Regentropfen tropften von den Bäumen und sammelten sich in Pfützen. Bis auf das leise Tropfgeräusch war es still, gespenstisch still, so als könne der Wald auch nicht glauben, was gerade geschehen war. Auch die kleine Elfe wartete. Sie fürchtete, sobald sie ihr Versteck verließ würde es wieder beginnen. Doch nach einigen Minuten hatte der Sturm nicht wieder angefangen und sie wurde neugierig. Ganz vorsichtig krabbelte sie zwischen den Bäumen hervor und stieg über den umgestürzten. Sie blickte sich um. Der Himmel über ihr war blau, doch sie war sich eigentlich sicher, dass Stürme nicht einfach so aufhören. Sie wurde immer neugieriger und wollte wissen, was passiert war, doch dazu brauchte sie einen besseren Überblick. Celia zögerte nicht lange, wirbelte herum und rannte zum größten Baum der Gegend. So schnell sie konnte zog sie sich an den dicken Ästen empor. Ein paar Mal rutschte sie ab, die Äste waren nass, doch sie ließ sich davon nicht irritieren. War ihre Neugier erst einmal geweckt, konnte sie nichts mehr aufhalten. Als die Elfe die Baumkrone erreichte, fiel ihr erst auf, wie der Sturm den Baum mitgenommen hatte. Es fehlten viele Blätter und Äste waren umgeknickt. Celia drehte sich um, was bei den nassen Ästen nicht gerade einfach war, so dass sie einen guten Überblick hatte. Was sie dann sah, verschlug ihr die Sprache. Am Horizont befand sich etwas wie eine schwarze Mauer, die sich hoch in den Himmel erhob. Als sie genauer hinsah, bemerkte sich, dass es gar nicht der Horizont war. Die Mauer war auch gar keine Mauer. Sie war durchzogen von grau und in ständiger Bewegung. Der Sturm, schoss es ihr durch den Kopf. Hektisch drehte sie sich um, um auch in die anderen Richtungen zu sehen. Aber der Sturm war überall. Sie war mittendrin! Es war noch nicht vorbei. Mit dieser Erkenntnis kroch wieder die Angst in ihr hoch, die vorübergehend von der Neugier verdrängt worden war. Gleichzeitig war der Anblick, der sich ihr bot, unglaublich faszinierend. Auf eine Celia völlig fremde Art war der Sturm und die mit ihm verbundene Gewalt gegen alles wunderschön. Hässlich und gleichzeitig wunderschön.

Auf der einen Seite entfernte sich der Sturm während er auf der anderen Seite immer näher kam. Mit Mühe riss sich Celia schließlich von den Blitzen und Wolken los, kletterte vom Baum runter und rannte in die Richtung, in der sie die Höhlen vermutete. Der Wald sah so völlig anders aus und binnen weniger Minuten hatte die sich verirrt. Sie hatte nur noch einen Gedanken. Sie musste zu den anderen kommen. Alles andere war egal. Ein paar Mal fiel sie hin und schürfte sich Hände und Knie auf, doch sie lief trotzdem weiter. Immer weiter. Hin und wieder drehte sie sich im Laufen um, um zu sehen, wie nah der Sturm war. Er kam immer näher. Sie rannte und rannte und stürzte wieder, bis sie es realisierte. Sie würde die Höhle niemals erreichen, sie wusste ja nicht einmal, wo sie war. Sie brauchte einen Unterschlupf. Hektisch sah sie sich um und stürzte so schnell sie konnte dorthin, wo das Dickicht am dichtesten war. Die Spitzen Äste zerschnitten ihre Kleider und schließlich ihre Arme und Beine. Endlich, nach einer Ewigkeit, fand sie eine relativ sichere Stelle zwischen zwei Felsen – Sie kroch so tief in den Schutz der Steine, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Celia zitterte am ganzen Leib, nicht weil ihr kalt war, Kälte und Schmerzen spürte sie nicht mehr, sondern wie sie aufgeregter war als jemals zuvor. Der Sturm war, trotz der Angst, die sie immer noch hatte, wieder ein Abenteuer und faszinierte sie. Angespannt saß sie da und wartete.

So plötzlich wie es aufgehört hatte, fing es auch wieder an. Von einer Sekunde auf die andere war Celia wieder umgeben vom bekannten Rauschen und Wasser schlug ihr ins Gesicht. Der Wind zerrte an ihren Kleidern, doch die Angst war nicht so groß wie zuvor. Irgendwie spürte sie, dass ihr nichts passieren würde, dass es keinen Grund für sie gab, den Sturm zu fürchten. Ihr würde er nichts tun. Abwesend betrachtete sie das Treiben. Die Dunkelheit zog sie in ihren Bann. Nichts außer ihr existierte im Kopf des Elfenmädchens. Nicht Schmerz oder Kälte und auch die Angst war wie weggeblasen. Sie blickte nur wie hypnotisiert in den Sturm.

Celia wusste nicht, wie lange sie so in ihrem Versteck kauerte, doch nachdem der Sturm nachgelassen hatte und es kaum noch regnete, erwachte sie wieder. Mit der Erkenntnis, in Sicherheit zu sein, kam auch alles andere wieder. Sie fing wieder an zu zittern und ihr ganzer Körper schmerzte. Langsam und möglichst vorsichtig verließ sie ihr Versteck wieder jede Bewegung schmerzte, doch sie wollte jetzt nur noch zu ihrer Mutter zurück. Sie musste sie einfach finden. Trotz der Schmerzen und der langsam in ihr hochkriechenden Müdigkeit machte sie sich auf den Weg. Die wusste immer noch nicht, wo sie war, geschweige denn wie viel Zeit vergangen war. Sie ging einfach immer weiter, ohne zu wissen wohin. Sie kannte nur noch zwei Gedanken: den an ihre Mutter und den in ihren Armen zu schlafen. Schlafen. Irgendwann erreichte sie einen Fluss. Sie wusste. Wo er lag und in welche Richtung sie gehen musste, also tat sie es, ohne wirklich wahrzunehmen, was sie tat. Sie stolperte einfach am Flussufer entlang. Die Steine, auf denen sie lief waren glitschig. Ein paar Mal rutschte sie aus, rappelte sich wieder auf und trottete weiter, doch schließlich blieb sie einfach liegen. Sie war so müde und wollte weder denken noch sich bewegen. Und ehe sie sich noch dazu durchringen konnte aufzustehen fielen ihr auch schon die Augen zu und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

*

Als sie wieder aufwachte, wollte Celia sich einfach auf die andere Seite drehen und weiterschlafen. Doch die Geräusche um sie herum machten es ihr unmöglich. Unter einem Leisen Stöhnen zog sie sich die Decke über den Kopf, doch es war immer noch zu laut. Und plötzlich schoss es ihr durch den Kopf: Decke? Das letzte, an das sie sich erinnern konnte, war der Fluss. Sie wollte nach Hause und musste am Fluss entlang marschieren, weil sie wegen dem Sturm ganz alleine draußen war. Sie hatte sich verirrt, weil alles so zerstört war.

Schnell riss Celia ihre Augen auf. Sie lag tatsächlich in eine Decke eingewickelt auf den Überresten eines Schlafkissens, wie Elfen sie benutzten. Das Kissen war kaum noch als solches zu erkennen. Die Füllung aus Blättern lag wild verstreut und nur dürftig von Stoff zusammengehalten auf der Plattform. Verwirrt blickte Celia sich um. Sie lag nicht mehr am Fluss, sie war wieder zuhause. Aber auch die Plattform, auf der sie saß, war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Einige Teile am Rand fehlten, die Einrichtung lag verstreut in der Gegend herum und ein Blick nach oben verriet dem Elfenmädchen, dass das Dach, das eigentlich nur aus einer Stoffplane bestand, zerfetzt war.

Vorsichtig richtete Celia sich auf. Ihr Körper schmerzte immer noch fürchterlich, doch sie konnte einfach nicht liegen bleiben. Als sie es endlich geschafft hatte, sich aufrecht hinzustellen, wurde ihr unglaublich schwindelig und sie begann zu schwanken. Sie fing sich gerade noch rechtzeitig und schaffte es, zum Rand der Plattform zu torkeln. Dort angelangt musste sie sich setzten. Ihre Knie konnten ihr Gewicht einfach nicht länger tragen. Die Schürfwunden bereiteten ihr furchtbare Schmerzen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie Verbände um die Knie hatte, ebenso wie an Händen und Armen. An einigen Stellen bildeten sich schon rote Flecken.

Sie konnte nun auch die Quelle der ganzen Geräusche ausmachen. Unter ihr liefen die Elfen immer wieder hin und her, trugen Sachen mit sich herum oder werkelten an den zerstörten Plattformen herum. Einige von ihnen flickten die Reste der Planen dürftig zusammen. Die Elfenkinder, die noch zu klein zum helfen waren, lagen in Decken eingewickelt auf dem Boden unter einer teilweise löcherigen Planen. Sie versuchten zu schlafen, doch offenbar waren sie zu verstört. Sie weinten und riefen nach ihren Müttern. Wieder überkam Celia dieses Gefühl der Überlegenheit. Sie war anders als diese kleinen Kinder. Sie rief nicht nach ihrer Mutter. Und sie hatte auch weitaus schlimmeres als ein zerstörtes Elfendorf gesehen.

Ihre Mutter. Wo war sie überhaupt? Suchend blickte sich Celia um, doch sie konnte sie nirgends ausmachen. Nach einiger Zeit seufzte sie resigniert und wendete sich dem Elfendorf zu. Es war, gelinde gesagt, in einem fürchterlichen Zustand. Die Plattform, auf der sie sich befand, war, soweit sie es beurteilen konnte, die einzige benutzbare. Die anderen lagen zur Hälfte oder ganz auf dem Boden oder waren zersplittert. Einige der Bäume, auf denen sie sich befunden hatten, waren verkohlt. Vermutlich hatte sie der Blitz getroffen. Die Einrichtung der Plattformen lag überall verteilt. Die Bäume sahen auch nicht besser aus. Ihnen fehlte ein großer Teil der Blätter, man hätte meinen können, dass Herbst sei, obwohl es erst Frühsommer war. Der Waldboden war matschig, überall bildeten sich kleine Bäche mit braunem Wasser, die sich ihren Weg zwischen den Baumwurzeln bahnten.

Celia hatte ihre Beine über den nun nicht mehr abgesicherten Rand der Plattform hinaus gehängt und ließ sie baumeln. Ihre Gedanken wanderten wieder zu dem Sturm und sie erinnerte sich an ihre Gefühle. Sie hatte so viel gefühlt. Das Nachdenken bereitete ihr Kopfschmerzen. Irgendwie war alles so kompliziert.

Plötzlich wurde sie von einem Geräusch aus ihren Gedanken gerissen. Hinter sich hörte sie Schritte. Sie drehte ihren Kopf und blickte nun zur Öffnung im Boden, an der sich die Treppe befinden musste. Schließlich erschien ein Kopf, ihm folgte ein Körper, bis Cilea schließlich auch ihre Füße auf die Plattform setzte. Celia blickte ihre Mutter nur mit einem leicht überraschten Ausdruck in den Augen an. Nachdem sie sich gegenseitig einige Sekunden angesehen hatte, entschloss sich Celia, das Schweigen zu brechen. Ihre Stimme klang heiser und schwach, schwächer als sie erwartet hatte, und so brachte sie nur ein leises „Mama“ zustande.

Das brachte Cilea zum Explodieren.

„Celia, was denkst du dir nur dabei aufzustehen! Kannst du dich nicht einmal benehmen? Man sollte meinen, dass du etwas gelernt hast, als du da draußen warst!“

Sie stürmte auf ihre Tochter zu, packte sie und zerrte sie zurück auf das Schlafkissen. Celia wollte schon protestieren, doch sie merkte, dass es keinen Sinn hatte. Außerdem hatten die harten Worte ihrer Mutter sie verletzt. Langsam stiegen nun Tränen in ihre Augen. Cilea merkte davon nichts. Sie war damit beschäftigt, die Verbände ihrer Tochter zu untersuchen und murmelte dabei immer wieder Worte wie „unverantwortlich“ und „gefährlich“ und beschwerte sich über den Zustand von Celias Kleidung. Als ihre Tochter das alles einfach so über sich ergehen ließ, wurde sie trotzdem misstrauisch. Schließlich blickte sie ihr direkt in die Augen und erkannte, dass ihre Tochter fast anfing zu weinen. Nun tat es ihr leid, dass sie so grob zu ihr war. Sie nahm sie sanft in dem Arm und wiegte sie leicht hin und her.

„Es tut mir leid, Schätzchen“, begann sie, „Du musst Furchtbares miterlebt haben. Was machst du aber auch immer so dumme Sachen.“

Sie seufzte leise. Ihre Tochter war ja so ein schwieriges Kind. Es war zum Verzweifeln.

Celia konnte einfach nicht anders als weinen. Es hatte sich so viel Spannung in ihr aufgestaut, die mit den Tränen aus ihr hinauszufließen schien. Sie schluchzte an der Schulter ihrer Mutter.

Sie saßen so eine ganze Zeit still beieinander, nur Celias gedämpftes Schluchzen war zu hören. Irgendwann löste Cilea die Umarmung wieder und wendete sich den Wunden ihrer Tochter zu. Sie nahm den Verband vom linken Knie ihrer Tochter ab und betrachtete die Wunde. Wieder seufzte sie.

„Meine Güte, wie hast du das bloß geschafft?“, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, während sie Salbe auf das Knie strich (Celia zuckte zusammen und biss sich auf die Lippe) und einen neuen Verband anlegte.

„Bin hingefallen“, brachte Celia schließlich über ihre Lippen. Überrascht blickte ihre Mutter auf und sah ihr direkt in die Augen.

„Warum hast du das überhaupt gemacht, Schätzchen?“

„Wollte einen Sturm sehen.“

„Aber du hast doch schon Stürme gesehen!“

„Aber nicht so einen.“

„War dieser Sturm denn so etwas Besonderes? Na dann haben sich die ganzen Verletzungen ja gelohnt oder?“, sagte Cilea mit unterdrückter Wut in der Stimme. Celia blickte an ihr vorbei und nickte nur stumm. Augenblicklich weiteten sich Cileas Augen. Sie konnte es einfach nicht fassen. Wie konnte ihre Tochter das nur sagen? Doch sie wollte sie nicht noch einmal anschreien. Sie nahm all ihre Selbstbeherrschung zusammen. Sie wollte verstehen, was ihre Tochter so faszinierte, obwohl sie wusste, dass sie es wohl nicht schaffen würde. Wenigstens versuchen musste sie es.

„Was war denn so besonders?“, fragte sie mit einer Ruhe in der Stimme, von der beide wussten, dass sie nur gespielt war.

Lange Zeit sagte Celia nichts, sie wusste nicht, wie sie es ausdrücken sollte, dann, „Es … als … als der Sturm am schlimmsten war … da … da hat er ganz plötzlich … aufgehört. Aber nicht wirklich. Da war … so etwas wie ein Loch … und … und überall waren Wände aus Sturm … und dann … dann ging es wieder los … und … ich hatte solche Angst … und der Sturm war so … so … so, ach, ich weiß nicht.“

Cilea verstand nicht. Sie verstand es absolut nicht. Sie blickte einfach nur ins Gesicht ihrer Tochter, die ihr so ähnlich sah und gerade gedankenverloren an ihr vorbei ins Leere sah. Innerlich seufzte sie. Ihre Tochter war so … anders. Doch man konnte ihr dafür keinen Vorwurf machen. Celia war einfach anders. Cilea blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie sich nicht eines Tages in eine Situation brachte, aus der sie nicht mehr hinaus konnte.