Kapitel XV: Durch die Steppe
Sie hatten sich schließlich darauf geeinigt, erst einmal zu Oreas’ Hof zurückzukehren. Dabei wollten sie durch die Steppe reiten. Die war zwar nach wie vor Rebellengebiet, aber gerade dadurch wohl sicherer, immerhin wurden die Hauptstraßen entlang der Steppe immer häufiger überfallen und zwei Reiter würden in den hauptsächlich unbewohnten Weiten der Steppe wohl weniger auffallen als an einem Ort, dem die Rebellen so oder so schon viel Aufmerksamkeit schenkten. Zumindest meinte Oreas das.
Da sie nicht wussten, wo die Rebellen sich aufhielten, bewegten sie sich nur sehr langsam vorwärts, immer horchend und spähend. Doch solange sie zwischen den Bäumen blieben waren sie sicher. Celias innere Unruhe ließ sich aber trotzdem nicht vertreiben. Im Gegenteil, sie wurde noch dadurch verstärkt, dass sie sich vorkam, als würden sie blind durch die Dunkelheit stolpern. Sie waren vielleicht schon längst auf Rebellengebiet, ohne es bemerkt zu haben. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht langen die feindlichen Linien schon weit hinter ihnen, die Soldaten konnten aber auch genauso gut in den Büschen direkt vor ihnen sitzen. Celias leichter Schlaf wurde mehr und mehr von Alpträumen durchzogen, in denen ihr dunkle Gestalten auflauerten und sie verfolgten.
Am gefährlichsten war wohl die Durchquerung des Flusses, der in ihr wieder unangenehme Erinnerungen wachrief, und der gleichzeitig ein beklemmendes Gefühl in ihren Magen kriechen ließ. Doch sie riss sich zusammen, was blieb ihr auch anderes übrig? Zur Sicherheit hatte Oreas ihr Herias Zügel abgenommen und führte sie durch den Fluss, dessen Wasser hier vergleichsweise ruhig war. Nach dieser Stelle hatten sie drei Tage suchen müssen. Das Wasser war kälter, als sie es in Erinnerung hatte, und sie fragte sich flüchtig, ob das nur an ihr lag, oder ob es wirklich kälter war.
Sie erreichten das andere Ufer beunruhigt und erleichtert zugleich. Einerseits gab es immer noch keine Spur von den Rebellen, und andererseits waren sie ihnen waren sie ihnen immer noch nicht begegnet. Celia wusste nicht, warum sie das so sehr irritierte, aber sie spürte, dass es Oreas genauso ging. Komisch, wie sehr sie inzwischen aneinander gewohnt waren. Sie redeten kaum, aber trotzdem konnte sie meistens sagen, was hinter Oreas’ starrer Miene vor sich ging.
Als sie die Steppe endlich erreicht hatten, hatte das Laub an den meisten Bäumen schon damit begonnen, sich langsam rot zu färben. Einige Bäume waren schon ganz rot gekleidet und beim kleinsten Windhauch segelten die Blätter zu Boden. Nässe hing in der kühlen Luft und Nebel waberte über der Ebene am Rand des Waldes, in dem sie immer noch kein Zeichen von menschlichem Leben ausgemacht hatte. Und auch in der Ebene schien nie ein Mensch gewesen zu sein, so friedlich und ruhig lag sie im trüben Licht.
Ein kurzer Blick zu Oreas und sie machten sich auf den Weg, dieses Mal zu Pferde. Sie hatten vor ein paar Nächten besprochen, dass sie von jetzt an nicht mehr herumschleichen würden. Das wäre nur noch verdächtiger. Stattdessen würden sie so tun, als wäre alles so, wie es sein sollte, als gehörten sie in die Steppe. So kämen sie auch endlich viel besser voran, denn in ihrem bisherigen Tempo würden sie es nie im Leben vor dem Winter schaffen.
Die ersten Menschen begegneten ihnen nach zwei Tagen in der endlos weiten Steppe. Es waren Viehhirten, die ihnen im vorbeigehen freundlich zunickten. Celia erwiderte den Gruß unsicher. Das mulmige Gefühl, das sie beim ersten Anblick der winzigen Gestalten in der Ferne ergriffen hatte, ließ erst wieder nach, als die Hirten mit ihren Schafen außer Sichtweite waren.
„Spätestens in fünf Tagen wissen die Rebellen, dass wir hier sind“, murmelte Oreas.
Celia schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, nur dass es wohl unvermeidbar gewesen war. Zwischen den sanften Hügeln konnte man sich nicht verstecken, denn sobald man jemanden sah, wurde man selber gesehen. Und irgendwie war sie auch auf seltsame Art und Weise erleichtert, dass sie es jetzt endlich hinter sich hatten.
In der folgenden Nacht saßen sie beide nachdenklich am Lagerfeuer, während die Pferde etwas abseits standen. Die Nacht war sternenklar, wie schon seit Tagen nicht mehr. Es würde kühl werden, und Celia kuschelte sich in eine Decke, obwohl sie eigentlich noch gar nicht fror. Ganz plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich wieder mit Oreas zu unterhalten. Sie hatten seit ihrer mehr als überstürzten Abreise kaum länger miteinander geredet. Und auch wenn es Celia nicht wirklich gestört hatte, in dieser Nacht hoffte sie auf eine Ablenkung von der drückenden Nachdenklichkeit, die sie seit dem Treffen mit den Hirten umgab. Sie war zwar erleichtert, aber dafür malte sie sich nun umso genauer aus, wie das Aufeinandertreffen mit den Rebellen wohl ablaufen würde.
Eigentlich hatte sie erwartet, dass Oreas nicht in der Stimmung zum Reden war, das war er im Grunde nie, doch irgendetwas bewegte ihn dazu, ihr diesen kleinen Gefallen zu tun.
„Oreas?“
„Hmm?“
„Was willst du eigentlich machen, wenn wir wieder zurück sind“ Wenn, nicht falls. Oreas runzelte die Stirn.
„Auf meinem Hof arbeiten, was sonst?“ Etwas in Celia sträubte sich gegen diese Antwort. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie wusste, dass Oreas auf dem Hof nie wirklich glücklich werden würde. Und sie hatte sich längst entschlossen, wieder nach Hause zu gehen. Sie hatte genug Abenteuer für ein Leben gehabt. Nur ihren Bruder wollte sie nicht alleine lassen, und das stellte sie vor eine Wahl, die sie nicht unbedingt treffen wollte.
„Du könntest doch mit mir kommen“, schlug sie mit hoffnungsvollem Ton vor.
„Und wohin wäre das?“
„Celia zögerte. „Ich möchte wieder nach Hause gehen.“
„Und was soll ich da? Bis auf Zylas konnte mich noch kein Elf leiden. Und die Waldelfen sind bestimmt noch schlimmer mit ihrer panischen Angst vor Menschen.“
„Trotzdem … denkst du nicht, du solltest den Wald wenigstens einmal gesehen haben? Er ist schließlich ein Teil von dir. Ob du nun da warst oder nicht.“
Oreas schwieg. Und Celia auch. Es war alles gesagt. Nun musste sie abwarten, wie Oreas sich entschied. Entschieden kuschelte sie sich tiefer in die Decken und legte sich auf die Seite. Hoffentlich würde es nicht zu kalt werden.
*
Zehn Tage später hatte man sie gefunden. Celia war wütend. Nach Oreas’ Schätzung hätten sie in ein paar Tagen die Hauptstraße nach Erador erreichen können.
Sie hatten sich nachts angeschlichen, so gut es eben ging. Celia und Oreas hatten wieder ein Feuer gemacht, da es nachts zu kalt wurde, und sich dann so nahe am Feuer wie möglich zusammengerollt. Die Rebellen waren klug genug gewesen, sich von allen Seiten gleichzeitig anzuschleichen, andernfalls hätten sie wahrscheinlich noch in der Dunkelheit fliehen können. So aber hatten sie keine Chance.
Die Aktion war alles in allem vergleichsweise unspektakulär verlaufen. Sobald Celia und Oreas durch das Trampeln der Männer aufgewacht waren, waren sie auch schon umzingelt. Celia wollte instinktiv nach ihrem Schwert greifen, doch Oreas hinderte sie daran, indem er eine Hand auf ihren Schwertarm legte. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass sie sich jetzt besser ruhig verhalten sollte. Fast gelangweilt hob Oreas die Hände und blickte die Männer erwartungsvoll an. Gesichtslose Gestalten nahmen ihnen die Waffen ab und drückten Celias Arme schmerzhaft hinter ihrem Rücken zusammen. Sie biss die Zähne zusammen, als grobe Seile um ihre Handgelenke zusammengezurrt wurden. Oreas hingegen verzog keine Miene.
Nachdem die Männer sichergegangen waren, dass sie keine versteckten Waffen mehr trugen (und Oreas einen Dolch abgenommen hatten), stellten sie sich in ein paar Metern Entfernung in einem Kreis um sie auf. Oreas blickte weiter absolut unberührt und blickte gelangweilt in die Runde, obwohl er unmöglich etwas in den Gesichtern erkennen konnte. Es war einfach zu dunkel. Trotz des Mondes konnte man alles nur schemenhaft erkennen. Celia hingegen machten die Männer nervös. Sie hatte es noch nie gemocht, beobachtet oder angegafft zu werden, und sie würde sich wohl auch nie im Leben daran gewöhnen.
Ein klickendes Geräusch brachte sie dazu, den Kopf nach rechts zu wenden. Immer wieder flogen Funken und ihr wurde klar, dass den Männern die Dunkelheit offenbar genauso wenig gefiel wie ihr selbst. Nach acht missglückten Versuchen gelang es ihnen, und nach und nach wurde die Welt in dunkles Rot getunkt.
Die zwei Fackeln, die sie entzündet hatten, wurden von zwei Männern in den Kreis herein getragen, und sie wurden an ihre Gesichter gehalten, sodass die Rebellen ihre Gesichter besser sehen konnten. Erst da verstand Celia wirklich, dass sie viel schlechter sahen und deshalb bei diesen Lichtverhältnissen fast blind sein mussten. Sie selber konnte immerhin fast Details in den Gesichtern ausmachen, nur Farben konnte sie gar nicht mehr sehen.
Eine Bewegung lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Wirklichkeit. Ein Mann, etwas älter als die anderen, schätze Celia, trat hervor und musterte sie genau. Dabei blieb sein Blick selbstverständlich an der ungewöhnlichen Kleidung und den großen Ohren hängen. Bei Oreas’ Anblick verzog er kurz das Gesicht, vermutlich hatte er erkannt, dass er ein Halbelf war. Aber der Mann hat sich gut im Griff und so blieb Celia nichts anderes übrig, als in ihrer Hilflosigkeit zu schmoren, bis er sich dazu entschied, etwas zu unternehmen. Es dauerte etwas, bis er sich dazu durchgerungen hatte, und Celia wurde das Gefühl nicht los, dass er sich absichtlich viel Zeit ließ. Schließlich lächelte er.
„Was machen ein Elfe und ein Halbelf mutterseelenallein in unserem Gebiet?“, fragte er, so als ob es ihn nicht wirklich interessieren würde. Doch als die Antwort ausblieb, schob er ein scharfes „Ich warte“ nach.
„Wir sind auf der Durchreise“, antwortete Oreas im selben Ton.
„Durchreise? Nach Norden? Keine besonders gute Idee in diesen Tagen.“
„Aber zeitsparend. Falls es ihnen noch nicht aufgefallen ist, es ist Herbst.“
Das gezwungene und kalte Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mannes und es nahm unangenehm harte Züge an.
„Schluss damit. Namen!“
„Oreas.“
„Celia“, murmelte sie. Sie wäre am liebsten im Erdboden verschwunden, nur um den begutachteten Blicken und den bohrenden Fragen zu entkommen. Der Mann nickte, aber es war klar, dass die Sache damit noch lange nicht ausgestanden war. Sie sollte Recht behalten.
„Und woher kommt ihr? Windelfen? Stolz genug dafür seid ihr ja. Oder doch Erdelfen?“
Dieses Mal zögerte Oreas bei seiner Antwort. Und Celia vermutete, dass es das Beste wäre, wenn sie auch nichts sagen würde. Oreas hatte sich mit Sicherheit schon Pläne zurechtgelegt, und wenigstes wusste er einigermaßen, womit er zu rechnen hatte. Sie hingegen war vollkommen hilflos und rechnete mit allem. Und vor allem wusste sie nicht, was wahrscheinlicher war, dass man sie gehen ließ oder dass man sie umbrachte.
„Waldelfen“, antwortete Oreas schließlich matt. Und damit schien er den Mann wirklich aus der Bahn zu werfen. Für einen Moment starrte er sie mit offenem Mund an, bevor er sich fing und noch einmal nachfragte.
„Wir sind Waldelfen. Zumindest zur Hälfte“, wiederholte Oreas, dieses Mal etwas klarer.
„Und was genau machen Waldelfen hier in der Steppe?“
„Sich die Welt der Menschen ansehen?“
„Unsinn!“, donnerte der Mann, so laut, dass Celia erschrocken zusammenzuckte. „Ihr seid hier, um für den König zu spionieren!“
„Sie reden Unsinn“, entgegnete Oreas ruhig. „Wenn wir spionieren wollten, würden wir es geschickter anstellen. Außerdem würde es wohl kaum Sinn machen, dafür zielstrebig nach Nordwesten zu reisen.“
„Du hast dir also schon Gedanken darüber gemacht, wie du dich verteidigst.“
„Ich benutze nur meinen gesunden Menschenverstand.“
„Zu dumm, dass du dabei ein paar Kleinigkeiten vergessen hast. Zum einen tragen Frauen keine Waffen, nicht einmal bei den Elfen“ – es folgte ein abschätziger Blick zu Celia – „Und zum zweiten gibt es keine Waldelfen außerhalb ihres verfluchten Waldes, mit einer Ausnahme, und da behauptest du, du wärst zur Hälfte einer?!“
„Ja“, erwiderte Oreas ruhig.
„Und wie willst du das beweisen?“
„Ihr könnt ja meinen Vater fragen.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie ihn kennen.“
„Ach ja?“
„Sein Name ist Toheras, das sagt Ihnen doch sicher was, oder?“ Totenstille. Nun waren die Männer wirklich verblüfft. Nach der ersten Schrecksekunde fingen sie an zu tuscheln und hörten erst auf, als der Anführer die Hand hob.
„Was für Beweise hast du?“
„Keinen.“
Man konnte dem Mann deutlich ansehen, dass ihm widerstrebte, was er würde tun müssen. Sein Gesicht zuckte, als er sich endlich dazu durchrang.
„Fesselt sie auf ihre Pferde und verbindet ihnen die Augen“, befahl er mit einer Sicherheit, die Celia überraschte und die Soldaten dazu brachte, ihm augenblicklich zu gehorchen.
*
Celia wusste nicht, wie lange sie bewegungsunfähig und blind auf Heria gesessen hatte. Das gleichmäßige Schaukeln ließ sie schnell jedes Gefühl für Zeit verlieren und lullte sie ein, sodass sie am Ende nur noch sagen konnte, dass es wohl mehrere Stunden gewesen sein mussten. Durch einen Schlitz am unteren Rand der Augenbinde konnte sie irgendwann Licht sehen, und sie spürte, wie die Sonne ihr Gesicht wärmte. Sie wurden also nach Osten geführt.
Die Männer unterhielten sich fröhlich, meistens über Belanglosigkeiten wie Frauen, aber immer wieder fiel der Name Regon. Das musste wohl der Anführer sein, denn er wurde immer im Zusammenhang mit Kommandos oder seinem Verhalten in bestimmten Situationen genannt. Außerdem machten sie sich über Oreas’ „Finte“, wie sie es nannten, lustig. Sie glaubten seine Geschichte nicht und waren sicher, dass der Schwindel bald auffliegen würde.
Nach einer Ewigkeit, so schien es zumindest, erreichten sie das Lager. Es war voller Menschen, soviel konnte Celia sagen. Es mussten viele sein, denn die Kakophonie des Lagerlebens ließ ihren Kopf schwirren. Es klirrte, schepperte und klapperte, und die Menschen, hauptsächlich Männer, riefen, lachten und redeten. Doch trotz des Lärms, an den sie sich wie immer erst gewöhnen musste, fiel ihr auf, dass die Menschen verstummten, sobald sie sich näherten. Und sie hatte das bestimmte Gefühl, dass man sie anstarrte.
Schließlich, sie mussten schon tief im Lager sein, brach das Klappern der Hufe ab und die Pferde hörten auf zu schwanken. Jemand zog an ihrem Bein und ließ sie so unsanft vom Sattel gleiten. Glücklicherweise fing man sie auf und stellte sie auf ihre Beine, aber die Männer mussten die weiter aufrecht halten, weil sie durch das Gezerre an den Fesseln und der Augenbinde immer wieder das Gleichgewicht verlor. Außerdem wehrte sie sich gegen das Gefühl, wie eine Ware behandelt zu werden. Angst schoss ihren Rücken hoch, als dir vielen Hände immer wieder an ihr herumrissen. Mussten sie denn unbedingt so grob sein?
Doch dieses Gefühl verschwand fast ganz, sobald sie wieder sehen konnte. Trotz des Anblicks der Männer, die abwartend um sie herumstanden und sie begafften als wäre die ein besonders außergewöhnliches Exemplar. Nun, für sie war sie das vielleicht auch.
Automatisch machten sich ihre Augen auf die Suche nach Oreas, bis sie rechts von sich einen hellblonden Haarschopf zwischen den Menschenköpfen ausmachte. Er hatte ihr den Kopf zugewandt und sah sie mit einem furchtbar unergründlichen Blick an, der alles und nichts zugleich sagte. Regon räusperte sich.
„In das Zelt“, befahl er. Und deutete auf die Jurte vor ihnen. Ohne groß zu zögern befolgten sie den Befehl und traten in das Vorzelt ein. Nur Regon folgte ihnen und trat dann schließlich durch einen Vorhang in den Hauptraum ein. Celia wollte ihm folgen, aber Oreas hielt sie fest.
Regon steckte schließlich wieder den Kopf heraus und hielt einladend den Vorhang auf. „Jetzt könnt ihr eure schwachsinnige Geschichte erzählen“, spottete er.
Oreas ging vor, Celia folgte ihm Sekunden später. Das Innere des Zeltes war bunter, als das Äußere vermuten ließ. Der runde Innenraum war mit Teppichen ausgelegt und in der Mitte, dort, wo die Feuerstelle war, schwelte noch immer die Glut der letzten Nacht. Oder des Morgens. Celia wusste nicht wirklich, wie spät es war.
„Danke Regon, du kannst gehen.“ Die warme Stimme kam aus hinteren Ecke, wo man einige Tische aufgebaut hatte, die vor Papier nur so überquollen. Ein Bild von Melanon, gebeugt über die Stadtpläne von Elikos, schoss ihr durch den Kopf, doch sie verdrängte es schnell wieder. Sie konnte es sich wirklich nicht leisten, sich ausgerechnet in diesem Moment ablenken zu lassen. Sie musste—
„Hallo Vater.“
Im Gegensatz zu Celia hatte Oreas seine Zeit nicht damit verschwendet, die Innenausstattung der Jurte zu bewundern, sondern sich gleich ihrem Bewohner zugewandt. Toheras sah seinen Sohn halb amüsiert, halb besorgt an, fiel Celia auf. Sie beachtete er gar nicht erst, und es versetzte ihr einen Stich, während ein Schauer der Erkenntnis durch ihren Körper lief. Sie spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte und sie sich verkrampfte, als ihr Blick auf den Mann fiel, der ihr Vater war.
Er war blond, sogar noch blonder als Oreas, relativ groß, mit schlankem Körper und schmalem Gesicht. Seine warmen, grünen Augen stachen besonders hervor, während sie Oreas von oben bis unten musterten.
„Du bist groß geworden“, stellte er nüchtern fest, und nickte.
„Hattest du etwa erwartet, ich würde ewig der kleine Junge bleiben, den du einfach im Stich gelassen hast?“, presste Oreas wütend hervor.
Toheras seufzte bitter. „So klein warst du auch nicht mehr.“
Oreas ballte zur Antwort die Fäuste und biss die Zähne zusammen.
„Aber du bist immer noch viel zu jung, um das zu verstehen.“
„Aber offenbar nicht zu jung, um alleine zu überleben. Ich weiß wenigstens, dass man die Menschen, die einem etwas bedeuten, nicht einfach im Stich lässt. Dazu brauche ich nicht erst hundert zu werden.“
Toheras schüttelte den Kopf. „Was willst du eigentlich hier?“
„Wir wollen einfach nur zurück nach Hause.“
„Aus Elikos, nehme ich an?“
Oreas nickte. Das „wir“ hatte Toheras dazu gebracht, sich Celia zuzuwenden. Er musterte sie von Kopf bis Fuß und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen vor Nervosität rot anliefen. Alles in ihr schrie danach, etwas zu sagen oder zu tun, doch kein Laut kam über ihre Lippen und sie blieb versteinert stehen.
„Eine Waldelfe?“, Celia brachte gerade noch den Hauch eines Nickens zustande.
„Eine interessante Freundin hast du da, Oreas. Darf man fragen, was du hier machst? Die Elfen verlassen doch sonst nie den Wald“, fragte er freundlich.
„Das hat einige Gründe“, murmelte Celia nach einer Pause. Wie sollte man jemandem sagen, dass man seine Tochter war, fragte sie sich. Einerseits wollte sie nichts mehr, als es ihm zu erzählen, so, wie sie es vorgehabt hatte, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Und andererseits wollte sie nur so schnell wie möglich von dort weg. Dieser Mann war ein Fremder, erkannte sie. Da waren kein Band und keine magische Verbindung, wie sie es sich immer erträumt hatte. Sie mochte ihm zwar ähnlicher sein, als allen anderen Elfen, aber trotzdem war sie ganz und gar nicht wie er. Sie wusste nicht einmal mehr, was sie überhaupt erwartet hatte. Dass er mit einem Mal der Vater sein würde, den sie sich immer gewünscht hatte? Nun, diese Illusion war schon in Ronia zerstört worden.
„Einige Gründe?“, bohrte Toheras nach. Doch Celia brachte keine Antwort zustande und wich seinem Blick aus.
„Sie war auf der Suche nach dir“, mischte sich Oreas sein. Seine Stimme brannte immer noch mit unterdrückter Wut, die sich irgendwie zu befreien versuchte. Und Celia begann zu ahnen, was dieser Ausweg sein würde. Verzweifelt schloss sie die Augen.
„Nach mir?“
„Ja Vater, sie ist nämlich deine Tochter musst du wissen.“
Geschockte Stille. Mit viel Mühe öffnete Celia wieder die Augen. Toheras starrte sie entgeistert an. Musterte sie von oben bis unten, bis er schließlich die Augen aufriss und kaum hörbar „Cilea“ flüsterte. Doch Celia hatte es gehört. Ihr Vater starrte sie immer noch an und schien genauso hilflos und überfordert zu sein wie sie. Obwohl, es musste ihn wohl noch mehr treffen als sie. Er hatte schließlich nie die Zeit gehabt, sich mit einer Tochter abzufinden. Irgendwie hatte Celia Mitleid mit ihm. Sein ganzes Auftreten hatte sich binnen Sekunden verändert. Zuvor war er gefasst und selbstbewusst gewesen, und nun zerbrach er sich sichtlich den Kopf über die richtigen Worte.
„Ich habe nichts gewusst“, stammelte er schließlich zur Rechtfertigung.
„Ich weiß“, flüsterte Celia erstickt.
„Warum hat sie mir nichts erzählt?“, fragte Toheras verzweifelt.
„Sie wollte dich nicht belasten. Das hat sie mir jedenfalls immer erzählt.“
Toheras schwieg.
„Sie wartet immer noch auf dich.“
Daraufhin blickte er schuldbewusst zu Boden. Wahrscheinlich erinnerte er sich an sein gebrochenes Versprechen, dachte Celia zynisch. Wenigstens wusste er jetzt, was für Folgen sein Verhalten gehabt hatte. Peinlich Stille senkte sich über das Zelt.
„Können wir dann gehen?“, fragte Oreas schließlich mit genervtem Unterton. Toheras hob scharf den Kopf.
„Wohl kaum. Ihr könntet unsere Position dem König verraten, und das würde ich nie zulassen.“
„Selbst wenn, er würde uns kein einziges Wort glauben. Oder denkst du etwa, ich hätte ein leichtes Leben mit dir als Vater? Kein Mensch traut mir mehr über den Weg.“ Da musste Celia ihm zustimmen. Die Erinnerung an die Belagerung und alles, was damit zu tun hatte, war immer noch zu frisch in ihrem Gedächtnis.
„Man würde euch sehen und wissen woher ihr kommt. Ihr hättet besser in Elikos bleiben sollen. Das hier ist jetzt Kampfgebiet.“
„Wären wir ja gerne, aber nach einem Attentat hat Melanon, seine Hoheit“ – der sarkastische Unterton war unüberhörbar – „Uns befohlen zu fliehen.“
„Eine andere Route hättet ihr nicht nehmen können?“
„Natürlich, die Straße nach Ronia ist doch längst Rebellengebiet. Und über Akweah – sei ehrlich, das wäre eine noch dümmere Idee gewesen.“
„Hm, da hast du wohl Recht. Und bei der Straße hast du gut geraten.“ Toheras nickte anerkennend.
„Die Fronten haben sich also weiter nach Norden verschoben. Gratulation. Aber in der nächsten Zeit wird sich nicht mehr viel ändern. Alle bereiten sich auf den Winter vor. Außerdem hat der König auch seine Späher. Da spielen wir doch keine Rolle mehr.“
Toheras seufzte und streifte Celia nachdenklich mit seinem blick. Fast automatisch setzte sie ihren besten Hundeblick auf und flehte ihn stimm and. Seine Schuldgefühle waren es dann wohl letztendlich auch, die ihn zum Einlenken bewegten.
„Also gut“, sagte er. Mit sicheren Schritten ging er zum Eingang und rief Regon herein. Der blickte überlegen in die Runde.
„Gib ihnen ihre Pferde und ihr Gepäck zurück. Auch die Waffen“, befahl Toheras. Regons Selbstgefälligkeit löste sich in Luft auf. „Aber—“, protestierte er.
„Kein aber. Sie können gehen.“ Regon sah seinen Vorgesetzten misstrauisch an, bedeutete dann aber Celia und Oreas widerwillig, ihm zu folgen.
„Auf Wiedersehen, Oreas“, Toheras merkte auf. „Wie war noch gleich dein Name?“
„Celia“, murmelte sie, während sie gleichzeitig gegen ihre Tränen kämpfen musste. Sie wusste nicht, warum sie weinen wollte. Es war jedenfalls nicht, weil sie bleiben wollte. Ganz und gar nicht. Sie wollte nach Hause, jetzt mehr als je zuvor. Sie sehnte sich nach dem Wald, in dem sie jeden Baum kannte. Sogar nach den Elfen, die sie nicht verstanden. Vielleicht weinte sie auch einfach ihren Kindheitsträumen nach, die sie in ihrem Herzen beerdigte.
Das letzte, das sie von ihrem Vater sah, war das Nicken zum Abschied. Sie erwiderte es. Oreas nicht. Er blickte nicht einmal zurück. In Toheras’ Gesicht spiegelte sich seine Zerrissenheit wider. Seine Selbstkontrolle überspielte das zum größten Teil, trotzdem konnte Celia die Bitterkeit über Oreas’ Verhalten spüren. Außerdem Trauer, Sturheit und Entschlossenheit. In diesem Moment begriff sie wirklich, dass keiner von beiden je auf den anderen zugehen würde, gerade weil sie sich nicht nur äußerlich ähnelten
Sie war in Gedanken immer noch bei diesen wenigen Minuten mit ihrem Vater, als man ihr widerstrebend und mit irritiertem Blick ihr Schwert zurückgab. Heria wieherte freudig, und brachte sie damit in die Wirklichkeit zurück. Die Menschen um sie herum tuschelten und starrten. Einige zeigten mit dem Finger auf sie. Sie würde sich wirklich niemals daran gewöhnen.
Dieses Mal ließ man sie ohne Augenbinde reiten. Oreas ritt voraus, den Kopf hoch erhoben. Er schien den Weg zu kennen. Celia blieb nichts anderes übrig, als darüber zu staunen. Sie würde sich niemals in einer Ebene zurechtfinden. Dazu sah alles einfach zu gleich aus.
*
Sie erreichten Oreas’ Hof zwei Wochen später. Seine Nachbarn kümmerten sich gut um ihn, soviel konnte man sehen. Zwei Männer arbeiteten gerade im Stall, als sie ankamen. Oreas saß ab und rief sie zu sich. Beide sahen überrascht auf und ihre Blicke verdunkelten sich, sobald sie Oreas erblickten. Celias Magen zog sich unangenehm zusammen. Die Männer waren ihr alles andere als geheuer, und auch Heria scheute.
„Danke, dass ihr euch um meinen Hof gekümmert habt. Aber jetzt könnt ihr wieder gehen“, rief Oreas ihnen entgegen, als sie nah genug waren.
„Das glaube ich nicht“, murrte der Größere.
Oreas stutzte. „Was?“
„Dieser Hof gehört jetzt uns. Du kannst ja gerne versuchen, ihn uns wieder wegzunehmen, aber dann hast du das gesamte Dorf gegen dich. Da kannst du noch so viel mit diesem Zahnstocher herumfuchteln. Selber Schuld.“ Der andere schwenkte zur Betonung die Heugabel hin und her.
Celia war gerade noch rechtzeitig vom Pferd gestiegen, um sich jetzt an Oreas’ Schwertarm zu klammern und ihn davon abzuhalten, auf die Männer loszugehen, die zur Sicherheit schon einen Schritt zurückgegangen waren. Oreas versuchte fluchend, sie abzuschütteln, doch sie ließ sich nichts abschütteln. Im Gegenteil, sie ließ ihn erst los, als er sich wieder beruhigt hatte. Er warf den Männern noch einen vernichtenden Blick zu, bevor er zum Wohnhaus stapfte.
„Halt! Wohin willst du?“, donnerte der Mann wieder.
„Meine Sachen holen“, erwiderte Oreas mit eisiger Ruhe.
„Das ist Diebstahl!“
„Was wollt ihr denn machen? Vor einer Heugabel fürchte ich mich nämlich nicht.“ Die Männer knirschten mit den Zähnen. „Vielen herzlichen Dank“, ätzte er.
Eine halbe Stunde später kam er mit einem gefüllten Kissenbezug zurück und schwang sich unbeeindruckt auf sein Pferd. Celia hatte die ganze Zeit nervös zwischen den Pferden gewartet, während die zwei Männer sie und vor allem ihr Schwert missgünstig musterten.
Als sie den Hof zum zweiten Mal verließen, blickte Oreas wieder nicht zurück. Erst als sie außer Sichtweite waren, sprang er vom Pferd und boxte in den Boden. Celia konnte nur stumm daneben stehen und zusehen, wie er langsam zu zittern begann. Zögernd ging sie auf ihn zu, und als er sie nicht wegscheuchte, umarmte sie ihn vorsichtig von hinten. Ruckartig drehte Oreas sich um und vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter. Er weinte solange, bis ihr die Füße schon lange wegen ihrer unbequemen Haltung eingeschlafen waren. Dann stand er auf, wischte sich die Tränen vom Gesicht und blickte schweigend zum Horizont.
„Kommst du mit mir?“, fragte Celia.
„Mir bleibt ja kaum etwas anderes übrig“, seufzte er.