Kapitel XIV: Unter Feuer
Ein ohrenbetäubendes Donnern schallte durch die Luft und riss die Bewohner Elikos’ aus ihrem ohnehin nicht tiefen Schlaf. Celia war schlagartig hochgeschnellt und hatte sich aufgesetzt, ehe ihr Geist ihrem Körper folgte und ihre Augen durchs Zimmer glitten, bis auch das letzte bisschen Schlaf sie verließ. Die Ursache für den Lärm fand sie aber trotzdem nicht. Sie hoffte inständig, dass es nur ein Sommergewitter war, doch irgendetwas sagte ihr, dass es etwas anderes sein musste. Wahrscheinlich lag es daran, dass das Wetter der letzten Tage zwar heiß gewesen war, die nötige Spannung in der Luft aber gefehlt hatte und auch weiterhin fehlte. Außerdem gab es eine wesentlich naheliegendere Erklärung: Es hatte begonnen.
Wieder donnerte es, und dieses Mal konnte sie ein Knacken und Krachen ausmachen, das sehr untypisch für ein Gewitter wäre. Eilig sprang sie vom Bett und rannte zum einzigen Fenster ihres Zimmers und stolperte dabei um ein Haar über ihre Stiefel, nur um an den westlichen Stadtmauern die Fackeln entzündet zu sehen. Unter sich konnte sie schemenhaft die Soldaten sehen, die in aller Eile in Richtung Stadttor strömten, ganz wie die kleinen schwarzen Ameisen, die sie als Kind so gerne beobachtet hatte.
Einen Moment noch blickte sie zum Horizont, in der Hoffnung etwas erkennen zu können, doch selbst ihre guten Augen konnten nichts gegen die drückende Dunkelheit der Vollmondnacht ausrichten. Alles, was sie erkennen konnte, waren die immer noch lodernden Feuer, und hin und wieder ein Widerschein an einer Mauer oder einem Stück Metall. Dann hielt sie es, unruhig und nervös wie sie war, nicht mehr länger aus, einfach nur herumzustehen und in die nichtssagende Leere der Nacht zu starren, die ihre Geheimnisse ja doch nicht preisgeben würde. In Windeseile und leicht zitternd zog sie sich an und stürzte aus ihrem Zimmer, ohne überhaupt zu wissen, wohin sie rannte. Sie war schon auf halbem Weg zum Planungszimmer, als Oreas ihr über den Weg lief. Er war ebenso verwirrt wie sie und der Schlaf stand noch in seinen Augen.
Zusammen setzten sie ihren Weg fort, und fanden an ihrem Ziel schließlich Melanon und seine Berater ebenso überrumpelt vor. Einige hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich umzuziehen und bei anderen lugten die Nachthemden unter hastig angelegten Kleidern hervor. Melanon allerdings trug wieder sein Magiergewand, das er schon seit ihrer Ankunft in Ronia nicht mehr getragen hatte. Immer wieder hasteten Soldaten aus dem Raum hinein und hinaus, um der Stand des Angriffs und Befehle zu übermitteln. Die Offiziere blickten nur ungläubig hin und her, so als könnten sie nicht glauben, dass die Rebellen tatsächlich vor der Stadt standen. Immer wieder schnappte Celia geflüsterte Satzfetzen auf, wie „mitten in der Nacht“, „kein Anstand“ und „Rebellenbastarde“.
„Nein, niemand schießt zurück!“, durchbrach Melanons schneidende Stimme ihre Gedanken, und offenbar auch die aller anderen Anwesenden. Alle Augen richteten sich auf ihn, als er den Befehl einem weiteren Soldaten gab. Der sah ihn nur an, als wäre er soeben vom Blitz getroffen worden.
„Aber Euer Majestät, das geht doch nicht“, widersprach ihm einer der Offiziere, woraufhin Melanons Augen ihn durchbohrten und unweigerlich einen Schritt zurückweichen ließen.
„Was bringt es“, setzte er in eisigem Ton an, „auf einen Gegner zu schießen, den man nicht sieht? Löscht die Feuer, dann bringt es ihnen genauso wenig. Schlagt nur zurück, wenn sie versuchen, die Mauern zu stürmen.“ Er blickte wieder zu dem jungen Soldaten, der aus seiner Trance erwachte, salutierte, und aus dem Zimmer eilte.
Einen Moment lang herrschte absolute Stille, durchbrochen nur von entferntem Donner der Kriegsmaschinen. Der Anblick Melanons, der sich mit beiden Händen auf den Tisch mit den eilig ausgebreiteten Karten abstützte und dabei ins Leere starrte, brannte sich Celia ins Gedächtnis wie kaum etwas zuvor. Keiner wagte es sich zu rühren. Aller Augen waren starr auf den Prinz gerichtet, in dessen Augen eine dunkle Wut und Entschlossenheit brannten, sie jeden in seinen Bann zog. Schatten flackerten über sein Gesicht und ließen seine Züge wie zu Stein erstarrt wirken. Hart und unbeugsam. Und majestätisch. Es fiel Celia schwer, diesen einem zum Sprung bereiten Raubtier gleichenden Herrscher mit dem Mann in Verbindung zu bringen, den sie vor so wenigen Wochen auf einem Hof im Westen kennen gelernt hatte.
Die Spannung wurde jäh durchbrochen, als Melanon abrupt herumfuhr und zur Tür herauseilte. Er hinterließ perplexes Schweigen. Sie fingen sich alle gleichzeitig und folgten halb gehend und halb laufend, die Berater in ihren Nachthemden laut schnatternd. Wieder hörte Celia nur mit halbem Ohr zu, Wörter wie „was“ und „wohin“, während sie über den Platz liefen. In Gedanken war sie immer noch bei Melanons Gesicht, das so gar nicht wie sein Gesicht ausgesehen hatte. Die Berater versuchten derweil, ihn aufzuhalten, aber er hörte ihnen nicht zu. Entschlossen marschierte er weiter, begleiten von den Augen der Bürger, die vor ihren Türen standen oder verstört aus ihren Fenstern blickten. Ihre vom entfernten Feuerschein erleuchteten Gesichter wirkten auf Celia, als wären sie nur halb real, gefangen in einer Welt aus Angst und Dunkelheit.
Ihr bizarrer Zug hatte die Hälfte seines Weges zurückgelegt, als die Fackeln eine nach der anderen verloschen und die Stadt in tintenschwarze Dunkelheit tauchten. Ein Donnern folgte, und sie hielten einen Moment inne, lauschten gespannt in der Stille.
„Majestät …“, setzte einer der Berater an.
„Schweig!“, herrschte Melanon ihn an und fuhr herum. Einen Augenblick musterte er seine Begleiter. „Ich weiß, was ich tue. Also versucht nicht, mich wie einen kleinen Jungen herumzukommandieren. Und bitte, bei allen Göttern, zieht euch etwas an.“
Die beschämten Mienen seiner Berater ließen seine Augen kurz aufleuchten, bevor er sich wieder seiner Aufgaben besann und die Weg zu den Festungsmauern fortsetzte. Celia und Oreas wechselten amüsierte Blicke. Oreas grinste sogar leicht, auch wenn er es sich merklich verkneifen musste, und Celia merkte, dass es ihr genauso ging. Ohne ein Wort zu sagen folgten sie ihrem Freund.
Zielstrebig und ohne auf seine Umgebung zu achten eilte der bereits durch das erste Tor auf den linken der beiden großen Wachtürme zu. Es verschluckte immer wieder in unregelmäßigen Abständen kleine Trupps halbverschlafener Soldaten, und schließlich auch Melanon, gefolgt von Oreas und Celia. Im Innern befand sich eine enge Wendeltreppe, die in Celia unweigerlich eine leichte Panik hervorrief und ihr den Brustkorb zuschnürte. Doch Melanon und Oreas verschwanden schon hinter der nächsten Biegung und sie schluckte ihre Angst herunter. Als sie schließlich oben ankam, war ihr leicht schwindelig.
Der Turm, wie auch der Gang auf der Mauer selbst, war voller Soldaten, die alle angespannt in die Dunkelheit hinabspähten. In ihren Augen standen Angst und Nervosität. Schuhe scharrten über den Steinboden, es klapperte hier und da eine Waffe, und die Augen aller, die sich in der Nähe befanden richteten sich auf Melanon, für den Augenblick zu verblüfft um Fragen zu stellen. Hinter ihnen marschierten weitere Soldaten die Treppe hinauf, ihr Ziel irgendwo an der Balustrade.
Es kam Celia wie mehrere Stunden vor, die sie alle so auf dem Turm standen und warteten. Hier und da konnte man Fackeln sehen und Celia nahm auch die Stimmen der Menschen unten auf der Ebene wahr. Verstehen aber konnte sie nur das Flüstern der Männer neben sich.
Die Soldaten hatten sich gerade einigermaßen entspannt, als aus den kleinen Leuchtpunkten plötzlich Bälle wurden. Mit einem Schlag richtete sich die Aufmerksamkeit aller wieder nach unten, aber die Neumondnacht erschwerte die Sicht soweit, dass weiter nicht viel zu erkennen war, so angestrengt sie die Augen auch zusammenkniffen. Celia selbst, mit ihren Elfenaugen, konnte einige wandelnde Schatten ausmachen, und Menschen, da wo der Schein des Feuers sie streifte. Allerdings verstand sie trotzdem nicht, was gerade vor sich ging.
Ein ersticktes Keuchen von Oreas ließ ihren Kopf herumfahren. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten entsetzt auf die roten Kugeln.
„Feuerkugeln!“ Sie haben die Steine durch Feuerkugeln ersetzt und wollen die Stadt in Brand setzten!“
Auch auf den Gesichtern der anderen zeichnete sich Erkenntnis ab. Melanon griff den Soldaten rechts von sich am Arm und zischte: „Lauf in die Stadt und sag allen, auch den Zivilisten, dass sie soviel Wasser aus den Brunnen schöpfen sollen wie sie können. Und ihr“, rief er „Jeder zweite geht hinunter und hilft, wo immer es nötig ist!“
Die Männer befolgten die Befehle ohne zu zögern, und Celia fragte sich, wie eine derartige Präzision wohl zustande kam. Sie hatten sicherlich lange trainieren müssen um so zusammenzuarbeiten. Ihr Verhalten erinnerte sie an die Zugvögel, die sich auch immer bewegten, als wären sie ein einziges Wesen, das nur durch Zufall in mehrere Körper geteilt wurde.
Ein peitschendes Geräusch riss sie zurück in die Wirklichkeit, hinaus aus den Erinnerungen an vergangene Zeiten voller Bäume und Frieden. Sie konnte gerade noch sehen, wie einer der Feuerbälle einem Kometen gleich über sie hinwegraste und in der Oberstadt nahe dem Tempel in die Häuser schlug. Es folgte ein weiteres Peitschen und nach eines, und die Flammenbälle hagelten auf die Stadt nieder, während die Männer nur fassungslos zusehen konnten wie sich die Dachstühle in Brand setzten und die Stadt sich dunkelrot färbte.
„Dreht euch um! Kümmert euch nicht darum. Euer Feind ist in der anderen Richtung!“, schrie Melanon, und weckte sie so aus ihrer Starre. „Wir werden Feuer mit Feuer bekämpfen. Du“, er deutete auf einen Mann „Lass die Pfeile dazu aus dem Arsenal holen. Und du: Sag den anderen, dass sie die Feuer wieder anzünden sollen!“ Beide salutierten und liefen die Wendeltreppe hinunter. Celia blickte ihnen nach, bis sie hinter dem zweiten Tor verschwanden. Derweil entzündete Oreas das Feuer im Turm. Als Lichtquelle diente hier nicht eine Fackel, sondern eine Metallschale voll mit Öl, dessen unangenehmer Geruch Celia unweigerlich dazu brachte, die Nase zu rümpfen.
Hinter sich hörte sie die Menschen rufen und schreien, während sie verzweifelt versuchten, die Feuer unter Kontrolle zu bekommen. Ein weiteres Peitschen. Und wieder einer der verteufelten Feuerbälle. Er zischte knapp über die erste Mauer hinweg und prallte etwa hundert Meter weiter gegen die zweite. Da nichts Brennbares in der Nähe war, richtete er keinen größeren Schaden an. So eingekeilt zwischen den Mauern wirkte er sogar fast harmlos. Noch ein Peitschen, ein Zischen und – ein ohrenbetäubendes Krachen, das die Mauer erschütterte.
„Wieder Felsen“, brummte einer der Soldaten.
Es dauerte noch drei weitere Feuerkugeln und vier Felsen, bis die Männer den Nachschub aus der Kaserne herbeigeschafft hatten. Sie schleppten körbeweise Pfeile und Bögen herauf; einen ließen sie direkt auf dem Turm stehen. Sofort griff Oreas sich zwei der Bögen und drückte Celia einen weiteren in die Hand. Sie beäugte die Waffe nur misstrauisch.
„Aber ich weiß doch gar nicht, wie …“
„Macht nichts. Bis zum Anschlag spannen, zielen, feuern, und hoffen, dass du triffst. In do einer Nacht hast du genauso gute Chancen wie die anderen. Versuch einfach, von Schuss zu Schuss zu lernen.“
Celia fühlte sich trotzdem nicht besser. Sie sah den Männern zu, wie sie die präparierten Pfeilspitzen ins Feuer hielten, anlegten, und sie hinunter in die Dunkelheit feuerten. Zwar trafen sie auf diese Art nicht besonders viel, aber die Pfeile setzen Gras in Brand und niemand löschte die kleine, eher unbedeutenden Feuer, und so konnte Celia mit der Zeit die Schemen der Menschen ausmachen. Oreas legte wieder einen Pfeil an, und dieses Mal traf er eines der Geräte, die die Kugel abfeuerten („Katapulte“, wie man ihr später erklärte). Immer mehr Pfeile bohrten sich in das dunkle Holz, und bald bemühten die Rebellen sich, es zu löschen.
Zögernd folgte sie schließlich dem Beispiel der anderen, nachdem sie einen kurzen Seitenblick auf einen viel beschäftigten Melanon riskiert hatte, und hielt einen Pfeil über die brennende Ölschale. Immer nach skeptisch legte sie ihn an und zog die Sehne zurück so gut es ging, doch ihre Kraft reichte nicht aus, sie vernünftig zu spannen. Ihre Arme begannen zu zittern und ehe sie sich versah, hatte sie losgelassen und der Pfeil sauste abseits in Gras. Celia keuchte. Bei den anderen sah es immer so einfach aus.
„Nicht so viel denken“, murmelte Oreas. „Versuch einfach, es so schnell zu machen wie du kannst und tu so, als würdest du es können.“
Sie atmete einmal tief durch. Ein weiterer Versuch. Dieses Mal hielt sie sich nicht so lange damit auf, zog die Sehne mit einem Ruck nach hinten und ließ los, sobald es nicht mehr weiter ging. Dieses Mal flog der Pfeil tatsächlich weiter, doch von ihrem Ziel war sie immer noch weit entfernt. Sie versuchte es ein weiteres Mal, und noch eines, hielt die Sehne so lange wie möglich gespannt und versuchte zu zielen, und langsam aber sicher näherten sie sich dem Ziel, dem immer noch brennenden aber funktionierenden Katapult.
Pfeil um Pfeil feuerte Celia ab, und schließlich traf sie, wenn auch nicht wirklich genau, hin und wieder ihr Ziel. Dabei zielte sie niemals auf Menschen, sondern immer nur auf eines der Katapulte, auch wenn es sich als Sisyphos-Arbeit herausstellte, denn so schnell, wie sie die Brandpfeile abfeuerte, löschten die Rebellen sie auch wieder. Bis zum Morgengrauen waren gerade einmal zwei der Holzkonstruktion zerstört. Die anderen acht feuerten weiter.
Erschwert wurde ihre Arbeit außerdem durch die Bogenschützen am Boden, die, durch Schilde geschützt, auf die Soldaten an der Balustrade schossen. Immer öfter mussten sie einem Pfeil ausweichen anstatt selber einen abzufeuern. Die Verletzten und Toten, Celia bemühte sich sie zu ignorieren, wurden die Treppen hinter ihnen herunter getragen und durch andere ersetzt, begleiten von immer neuem Schreien und Wimmern. Ständig musste sie schießen oder ausweichen. Erst als es zum Morgen dämmerte wurde ihre Routine unterbrochen, von Oreas, der eine Hand auf ihre Schulter legte, als sie nach dem nächsten Pfeil griff. Er nickte zur Treppe, und wortlos folgte sie ihm hinunter.
Die Hauptstraße war für diese Tageszeit außerordentlich belebt. Eines der Häuser brannte, und die Menschen versuchten verzweifelt es zu löschen. Sie hatten eine Kette gebildet, um Wasser aus dem nächstgelegenen Brunnen herbeizuschaffen und das Feuer so daran zu hindern, auf eines der Gebäude überzugreifen. An ihnen vorbei wurden Menschen auf Tragen so schnell es ging zum Lazarett getragen, und wer noch gehen konnte stolperte mehr schlecht als recht in Richtung Marktplatz. Die Leichen hingegen wurden auf dem Trainingshof aufgebahrt. Ein älterer Beamter ging an ihnen vorbei und notierte die Namen mithilfe des Quartiermeisters. Die identifizierten Körper wurden dann auf einen Karren geladen und zu einem Holzstapel mitten auf dem Marktplatz gebracht.
„Sie werden gemeinsam eingeäschert“, antwortete Oreas auf Celias entsprechende Frage. Es war das erste Mal, dass sie sprachen seit sie den Turm verlassen hatten. „Wenn sie man sie zulange liegen lässt würde es Krankheiten geben, und begraben kann man sie hier nicht. Es ist noch nicht mal genug Holz da, um sie alle einzeln zu verbrennen.“
Celia ließ ihren Blick noch einmal über den Stapel wandern. Ein Grab also. Als sie das Haus betraten, war sie mit einem Mal schrecklich erschöpft. Sie hatte kaum geschlafen diese Nacht. Und es war ihr vorher gar nicht aufgefallen, dass sie so müde war. Vor Oreas Zimmertür blieben sie schließlich kurz stehen. Als sie endlich ihren müden Kopf hob, blickte Celia in Oreas’ Augen. Er musste in etwa so aussehen, wie sie sich fühlte, dachte sie benommen. Auch wenn er es wohl im Notfall besser überspielen konnte.
„Sollten wir nicht weiterhelfen?“, fragte sie matt.
Oreas schüttelte nur den Kopf.
„Nein. So müde wie wir sind bringt das auch nichts. Nachts haben unsere Augen wenigstens geholfen. Da haben nicht mal deine Schießkünste gestört.“ Er lächelte, auch wenn es seine Augen nicht ganz erreichte.
„So schlecht war es doch gar nicht für das erste Mal“, protestierte sie leise, doch Oreas gab nur ein weiteres erschlagenes Lächeln zurück.
„Gute Nacht.“
„Nacht.“ Und schon war Oreas hinter seiner Tür verschwunden. Auf dem Weg zu ihrem eigenen Bett wurde Celia schließlich von einer merkwürdigen Taubheit erfasst. Wie durch Watte hörte sie immer noch die Steinbrocken – sie waren inzwischen dazu übergegangen, keine Feuerkugeln mehr zu benutzen – als sie sich umzog und in ihr Bett stolperte. Trotzdem fühlte sie sich noch viel zu wach um einzuschlafen. Einige Sekunden später schlief sie tief und fest.
*
Die Tage der Belagerung waren von einer merkwürdigen Routine geprägt. Nach den ersten paar Tagen, in denen Celia und Oreas hauptsächlich nachts auf einem der Türme gekämpft hatten, waren die Rebellen des ständigen Kampfes überdrüssig geworden und griffen nur noch tagsüber an. Also standen sie wieder morgens auf und verbrachten den Tag kämpfend. Celia bekam sogar ein paar Mal die Chance, ihre neu erworbenen Schwertkünste unter Beweis zu stellen.
Die Rebellen versuchten nämlich mehrere Male die Mauern zu stürmen, aber bis auf diese paar Ausnahmen war die Situation festgefahren. Keine der beiden Seiten konnte Boden gutmachen und die Verbissenheit ließ bei keinem nach. Eher im Gegenteil. Und so wurden aus Tagen Wochen und aus Wochen ein Monat. In der Stadt gingen Gerüchte um, dass der Rebellenführer Toheras die Armee persönlich anführte. Immer wenn sie das hörte, bekam Celia ein mulmiges Gefühl im Magen. Und ihr und Oreas brachte es noch weitere Probleme. Die hatte eigentlich damit gerechnet, dass die Menschen in Krisenzeiten zusammenhalten würden, doch ihr wurde bald klar, dass sie sich geirrt hatte. Nun ja, nicht ganz. Sie hielten zusammen, nur gegen sie und Oreas, wobei sich der Hauptteil der Feindseligkeit gegen Oreas richtete.
Zuerst waren es ja nur Milam und die Berater gewesen, die in ihrer Gegenwart jedes Mal verstummten und sie nicht aus den Augen ließen. Nicht einmal Melanons warnende Blicke hatten mehr geholfen, so wie es vor der Belagerung gewesen war. Dann hörte sie immer öfter das Geflüster über ihren Vater und es machte Sinn, irgendwie jedenfalls. Sie dachten, Oreas würde sie verraten. Eine in ihren Augen völlig unsinnige Behauptung, denn sie wusste ja noch nicht einmal, wie man Nachrichten aus der Stadt schmuggeln könnte, ohne dabei beobachtet zu werden. Die Mauern waren zu dick und ständig bewacht.
Dann warfen auch die Bürger und Soldaten ihnen scharfe Blicke zu, auf den Mauern und unten hielten alle so viel Abstand wie nur menschenmöglich, und hinter ihren Rücken wurde leise getuschelt. Meistens ging es um die Frage, warum Melanon ihnen vertraute. Celia konnte man schließlich schon deshalb nicht trauen, weil sie eine Waldelfe war, und der Konsens war, dass sie ihn verzaubert hatte. Und dass sie mittels Elfenmagie mit Toheras kommunizierten.
Gegen Anbruch der fünften Woche überhörte sie einen der Soldaten, wie er zu einem anderen sagte, dass es am besten wäre, wenn man sie einfach beseitigen würde, Scheiterhaufen gäbe es ja genug. Sie erzählte Oreas davon, während sie eine Pause zum Essen machten: „Ich bekomme langsam immer mehr Angst vor ihnen, mehr als ich vor den Rebellen habe. Ich traue mich ja kaum noch, jemandem den Rücken zuzudrehen.“
Oreas blickte nur finster zu einer Gruppe von Menschen hinüber, die sie misstrauisch beäugten. Dann nickte er. „Mir geht es genauso. Sie werden langsam gefährlich. Ich habe schon mit Melanon darüber geredet. Sobald es zu gefährlich wird, werden wir durch das andere Tor gehen. Dann müssen wir wohl oder übel durch Akweah reisen. Das ist zwar auch nicht ungefährlich, aber wenigstens müssen wir da nicht drauf achten, was man uns ins Essen mischt.“
Celia starrte zweifelnd auf ihren Teller. Dann kam ihre ein anderer Gedanke: „Und was ist mit Melanon?“
„Was soll schon mit ihm sein?“
„Wir können ihn doch nicht alleine lassen.“
Oreas sah sie mit einem unidentifizierbaren Ausdruck im Gesicht an. „Wir haben keine Wahl. Sein Platz ist jetzt hier. Er kann nicht einfach gehen. Dann könnte er nie wieder nach Caronia zurückkehren. Seine einzige Wahl wäre Nikloral, aber er würde es trotzdem nicht machen. Sein verdammtes Verantwortungsgefühl lässt es niemals zu, dass er die Menschen hier im Stick lässt, egal wie schlecht sie uns behandeln.“
Celia schluckte. Sie wollte nicht gehen. Melanon war der Erste, der sie jemals verstanden hatte. Ihr bester Freund. Der Gedanke war ihr noch gar nicht gekommen. Ohne Melanon zu sein, das konnte sie sich nicht so wirklich vorstellen. Nein, das war nicht ganz richtig. Vorstellen konnte sie es sich schon, sie wollte es nur nicht.
„Wir sollten mal wieder bei den wunderbaren Strategen vorbeischauen und sie in Angst und Schrecken versetzen, meinst du nicht?“ Ein schiefes Grinsen zierte Oreas’ Gesicht. Und Celia erwiderte es.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, vorbei an wispernden Menschen, die stehen blieben sobald sie vorbeigingen und alles andere stehen und liegen ließen. So musste es Oreas sein ganzes Leben lang gegangen sein, dachte Celia. Nur hatte bisher wohl kaum jemand ernsthaft daran gedacht, ihn umzubringen.
In der Kommandozentrale herrschte wie immer ein gelinde gesagt diskussionsfreudiges Gesprächsklima. Die Berater und Kommandanten redeten aufeinander ein, und besonders auf Melanon. Der saß in einem Stuhl und stützte verzweifelt den Kopf auf beide Hände. Die Belagerung zehrte an der Energie aller, doch Melanon traf es besonders schlimm. Tag und Nacht wurde von ihm verlangt, dass er Entscheidungen über irgendwelche Belanglosigkeiten traf. Es schien fast so, als wäre ohne ihn niemand in der Lage klar zu denken, als wäre Elikos ohne ihn wie kopflos.
Oreas unterbrach eine erhitzte Diskussion über den Wideraufbau der abgebrannten oder zerstörten Häuser, als er sich räusperte. Melanon war augenscheinlich der einzige, der sich darüber freute, und der ihre Anwesenheit nicht verabscheute. Die anderen erdolchten sie mit Blicken. Kaum war der Feind erschienen, vergaßen die Berater ihre Konflikte und konzentrierten sich wie immer voll und ganz auf sie und Oreas, wie ein Rudel Wölfe auf seine Beute.
Peinliches Schweigen senke sich über die gespannte Atmosphäre, doch keiner schien in der Lage, es zu brechen. Celia war sich auch nicht sicher, ob es überhaupt jemand wollte. Nicht einmal sie hatten einen bestimmten Grund, mit Melanon zu reden. Jedenfalls keinen, der den anderen Anwesenden genügen würde.
Oreas wollte gerade das Wort ergreifen, als Milam ihm schließlich doch zuvorkam: „Was wollt ihr hier? Ihr habt hier nichts verloren, ihr—“ Oreas brachte ihn mit einem seiner berüchtigten eiskalten Blicke zum Schweigen.
„Wir“ – er betonte das Wort unnötig stark – „wollten nur unseren Freund besuchen. Und es ist immer noch seine Entscheidung, wo wir etwas verloren haben und wo nicht.“ Milam antwortete nur mit einem beißenden Blick.
„Nun, dummerweise ist Ihre Majestät von seiner Gutmütigkeit geblendet und sieht nicht, dass wir den Feind in unserer Mitte haben und ihm alle Informationen geben, die er braucht. Jeder weiß doch, dass dieser Bastard und seine kleine Elfenfreundin diesem vermaledeiten Verräter Toheras helfen!“
„Danke Milan, für diese tiefgehenden Einblicke in meine Seele, aber ich denke ich bin durchaus noch in der Lage zu beurteilen, wem ich vertrauen kann und wem nicht“, gab Melanon mit ruhiger Stimme und einem Hauch Ironie zu verstehen. Er gab sich nicht einmal die Mühe, die Wut in seinem Blick und seiner Mimik zu dämpfen.
„Aber—“
„Schweig! Ich will nichts mehr davon hören!“
„Euer Hoheit!“
Alle Köpfe fuhren in einem herum und brachten den jungen Soldaten, der in der Tür stand, dazu, unbehaglich zu schlucken. Es musste wirklich komisch auf ihn wirken, wie sie alle da standen, Milam mit hochrotem Kopf und Melanon voll unverhohlener Wut.
„Ähm …“
„Ja?“ Melanon gestikulierte auffordernd mit der Hand.
„Es …“ Er strahlte plötzlich übers ganze Gesicht. „Es ist unglaublich! Sie ziehen sich zurück“ Die Rebellen ziehen sich zurück!“
Unglauben stand in die Gesichter aller geschrieben und die Freude stellte sich nur langsam ein. Es war vorbei! Keine Kämpfe mehr, und auch das unaufhörliche Krachen der Steine gegen die unnachgiebigen Mauern war verstummt. Es war Celia gar nicht aufgefallen, so sehr hatten ihre dunklen Gedanken sie abgelenkt. Auch Melanon schien zu begreifen und ein erleichtertes Grinden schlich sich auf sein Gesicht. Die Jahre, die er die letzten Monate mit sich herumgeschleppt hatte, fielen mit einem Mal von ihm ab.
*
Es sollte noch zwei weitere Tage dauern, bis der Freudentaumel die Stadt wieder aus seinen Fängen entließ. Nicht einmal das drückend schwüle Wetter und die Zerstörungen hielten die Menschen davon ab, sich tag und Nacht bei Wein und Musik zu amüsieren.
Celia selbst war nicht nur wegen des plötzlichen Friedens vor den Mauern erleichtert. Jetzt, wo den Menschen die Nerven nicht mehr blank lagen und ihre Euphorie jede andere Emotion verdrängte, waren die „Verräter“ vergessen. Also sonnte sich Celia in ihrer neu gewonnenen Anonymität. Niemand beachtete sie oder Oreas noch groß. Das mag aber auch daran gelegen haben, dass sie sich größtenteils in ihrem Zimmer aufhielt und es nur zu den Mahlzeiten mit Melanon verließ. Sie verbrachte die Zeit weniger mit feiern und vielmehr damit, das Erlebte aufzuschreiben und aufzuzeichnen. Nicht einmal fürs Schlafen nahm sie sich besonders viel Zeit. Die Kämpfe hatte ihr nämlich nicht nur jede Menge Stoff zum Berichten geliefert, sie hatte in den Wochen auch nicht einmal die Feder in die Hand genommen. Genau genommen hatte sie ihre Aufzeichnungen sogar ganz vergessen gehabt. Und so erging sie sich ausführlich über Kriegsgeräte und deren Funktionen und in der detaillierten Darlegung von den Kriegstaktiken beider Seiten. Sie löcherte Oreas, bis er ihr alles genauestens erklärt hatte und bat ihn schließlich ihr beim Schreiben zu helfen. Er lehnte allerdings ab. Und ihr blieb nichts anderes übrig, als sich alleine durch den verwirrenden Wust an Wissen zu wühlen.
Am Abend des zweiten Tages konnte sie endlich zufrieden die Feder beiseite legen. Kurz musterte sie noch ihr Werk, bevor sie sich ausgiebig streckte und dem letzten Rest Tinte beim Trocknen zusah. Sie würde sich nie an Schreibtische und Stühle gewöhnen. Eigentlich bevorzugte sie es auch im Schneidersitz zu schreiben, ein Brett auf den Knien, aber sie hatte in ihrem Zimmer keine passende Unterlage gefunden. Und sie wusste nicht, an wen sie sich hätte wenden müssen um eine zu bekommen. Melanon wollte sie mit so einer Kleinigkeit jedenfalls nicht belästigen. Also war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich mit verspannten Schultern abzufinden. Da half auch Massieren nicht mehr. Seufzend stand sie auf. Die Sonne tauchte gerade den Horizont in die verschiedensten Rottöne. Es wurde Zeit fürs Abendbrot.
Wie immer, bevor die Vorkriegsroutine so harsch durchbrochen worden war, war die Tafel mit dem immerweißen Tischtuch reich gedeckt. Die Farbkontraste überraschten Celia immer noch, wie an den Tagen zuvor. Es wirkte so irreal, wenn sie den Reichtum vor dem Hintergrund der blutigen Leichen und des Feuers betrachtete. Etwas in ihr schrie sie an, dass das alles hier nicht sein sollte. Doch sie blieb stumm und setzte sich neben Oreas. Die Hälfte der üblichen Verdächtigen hatte bereits Platz genommen, und die anderen trafen binnen weniger Minuten ein. Melanon trat, immer noch ungewohnt leichtfüßig, als letzter ein und lächelte in die Runde. Er setzte sich an den Kopf der Tafel.
Ein Räuspern riss Celia aus ihren Gedanken, mit denen sie immer noch zur Hälfte bei ihren Aufzeichnungen war. Milam war aufgestanden. Die anderen sahen selbstzufrieden in die Runde. Etwas ging vor, und Celia war sich sicher, dass es ihr nicht gefallen würde. Melanon hob nur fragend eine Augenbraue.
„Euer Hoheit, wir fühlen uns verpflichtet, sie auf etwas hinzuweisen.“
Der fragende Ausdruck verstärkte sich noch, und auch etwas Besorgnis mischte sich in seine Augen. „Wir?“
„Wir, Euer Hoheit“, schaltete sich einer der anderen ein. Melanon blickte trotzdem weiter Milam an. Der räusperte sich erneut.
„Es ist so, Euer Hoheit“, fuhr er fort, und gab sich Mühe, dabei so seriös und neutral wie möglich zu klingen. „Wir sind der Ansicht, dass die Anwesenheit dieser“ – er gestikulierte zu Oreas und Celia – „Personen nicht mehr tragbar ist.“ Es folgte eine gewichtige Pose. „Wir sprechen auch im Namen der gesamten Stadtbevölkerung. Keiner, wirklich keiner von uns will sie noch hier. Es ist eine Beleidigung für uns alle. Besonders jetzt, wo die Gefahr durch die Rebellen so groß ist. Seht es endlich ein, sie sind eine Gefahr. Und wenn sie weiter bleiben, wir sich irgendwann einer des Problems annehmen“, setzte er wie beiläufig hinzu. Sein Gesicht war rot angelaufen, und sein Atem ging etwas schwerer als sonst, wie immer, wenn er das Wort ergriffen hatte.
„Einer?“, hakte Melanon nach.
„Einer“, sagte Milam mit grimmiger Miene.
Eine unbehagliche Stille legte sich über die Tafel, alle warteten, und Celia verstand nicht. Jedenfalls den letzten Teil. Schließlich sprang Oreas auf und Blickte mit einer Wut in die Runde, die selbst für ihn selten war: „Mir geht es hier nicht um mich, aber euch ist doch hoffentlich klar, dass ihr davon sprecht, euren Kommandanten zu verraten.“
Dann stürmte er zur Tür hinaus. Und Celia folgte ihm ausnahmsweise nicht. Sie wollte ihm lieber nicht in die Quere kommen, wenn er in so einer Stimmung war. Hilflosigkeit übermannte sie und in ihre Kehle bildete sich ein Kloß der einfach nicht weichen wollte. Sie wusste nicht, was geschehen würde, und irgendwie fühlte sie sich seltsam allein. Eine irrationale Angst ergriff von ihr Besitz, und ohne dass sie es sich erklären konnte wusste sie, dass in den nächsten Stunden etwas passieren würde.
„Geht!“, befahl der Prinz. Die Untertanen blickten verwirrt.
„Raus!“, diesmal lauter und bestimmter.
Eilig erhoben sich die Männer und machten sich zum Narren, als sie fast über die Stühle oder ihre Füße stolperten. Celia war gerade im Begriff, selber aufzustehen, als Melanon ihn eine Hand auf den linken Arm legte. Seine Augen lächelten traurig. Die Tür fiel zu. Stille. Dann ein Seufzen.
„Ich möchte, dass du etwas für mich tust“, begann Melanon. Merkwürdig, dachte Celia, in all der Zeit hatte er sie nie um etwas gebeten.
„Oreas ist sturer, als gut für ihn ist. Das war schon immer so. Und er war auch noch nie gut im Weglaufen. Jedenfalls im offensichtlichen Weglaufen. Vor sich selbst, das ist eine andere Geschichte.“ Noch ein Seufzen. „Ich möchte, dass du ihn dazu bringst, morgen mit dir abzureisen. Ihr müsst noch heute Nacht packen.“
„Aber—“
„Nein“, unterbrach er sie scharf. „Nein, ihr müsst gehen“, fügte er sanfter hinzu. „Milam hat sich zwar zuviel herausgenommen, aber er wird ernst machen. Eifersucht bringt die Menschen dazu, Dinge zu tun … Ihr seid hier in Gefahr. Es ist besser so.“
Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu, und Celia wusste, dass er vermutlich Recht hatte. So sehr es ihr auch wehtat. Sie wollte nicht gehen. Sie wusste nicht einmal wohin, schoss es ihr durch den Kopf. Seit sie den Wald verlassen hatte, war er so etwas wie ihr Leitstern gewesen. Sie war ihm bedingungslos gefolgt, und jetzt fühlte sie sich verloren, orientierungslos. Und sie wollte nicht gehen.
„Am besten wäre es wohl, wenn ihr heute Nacht noch geht. Verschwendet keine Zeit darauf, euch zu verabschieden.“
Sie blickten sich lange in die Augen und alles in Celia schrie sie an, etwas zu tun. Irgendetwas. Sie sollte ihn überreden mitzukommen, irgendetwas, aber kein Wort kam ihr über die Lippen. Stattdessen fing sie einfach an zu weinen.
„Geh jetzt.“ Der sanfte Ton seiner Stimme blieb ihr ewig im Gedächtnis, wie so vieles an ihm, zusammen mit seinem traurigen Lächeln. Ein weiterer Blick, und dann wandte sie sich um und ging durch die Tür. Ihr Herz schmerzte, als sie krampfhaft versuchte ihre Tränen zu unterdrücken.
Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, machte sie sich schweren Herzens auf die Suche nach ihrem Bruder. Zuerst sah sie in seinem Zimmer nach, doch keine Spur von ihm. Ratlos wanderte sie ohne Ziel durch die Gänge, in der Hoffnung, ihn irgendwie zu finden, währen ihre Gedanken immer noch um Melanon kreisten. Jetzt, wo sie nicht mehr in seiner Gegenwart war, hatte der Schmerz nachgelassen, und doch wünschte sie sich nichts mehr, als bei ihm zu bleiben. Ohne sie und Oreas wäre er alleine, und diese Qualen wollte sie ihm nicht zumuten. Er brauchte Freunde, und in Elikos hatte er schließlich keine. Wahrscheinlich hatte er nirgendwo welche, dachte sie bitter, wenn nicht einmal seine Familie ihm besonders nahe zu stehen schien. Bleiben können würden sie wohl aber auch nicht, nicht, wenn sie tatsächlich in so einer Gefahr schwebten, auch wenn sie das immer noch nicht so recht verstand.
Sie fand Oreas schließlich auf dem Übungshof. Ihre Schritte hatten sie wie automatisch dorthin geführt, wohl weil sie den Weg schon so oft gegangen war. Einen Augenblick sah sie ihm zu, wie er im schwachen Mondlicht seine Übungen machte, dann räusperte sie sich. Er fuhr erschrocken herum. Und Celia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ein Mensch hätte ihn wohl kaum so überraschen können. Doch sobald sie sich wieder an den Grund für ihre Begegnung erinnerte, verblasste es. Oreas sah sie bloß fragend und leicht genervt an.
„Melanon … er hat gesagt, wir sollen sofort gehen. Ohne uns von ihm zu verabschieden.“
„Das kann er vergessen! Was denkt er denn wer ich bin? Ein Feigling? Nein, diese Genugtuung werde ich diesem Idioten Milam nicht geben“, donnerte er, und stürmte vom Platz, offenbar um Melanon zu sagen was genau er von seiner Idee hielt.
„Oreas!“, schrie Celia verzweifelt. Sie bereute es, dass sie sich nicht überlegt hatte, was sie sagen wollte, bevor sie den Mund aufgemacht hatte. „Wart—“
Eine blitzende Klinge schoss aus der Dunkelheit des Tores zum Haupthaus hervor. Oreas konnte dem Hieb gerade noch ausweichen und parierte einen zweiten. Und dann war er schon nahe genug an seinen Gegner herangekommen, um ihm den Schwertknauf gegen den Kopf zu schlagen. Der Mann sackte zusammen.
„Oreas?“ Celia war selber darüber erstaunt, wie schwach ihre Stimme klang. Der Schock, den sie gar nicht bemerkt hatte, war ihr tief in die Glieder gefahren. „Ich … ich denke wir sollte tun was Melanon sagt.“ Sie blickte ihrem Bruder starr in die Augen, und konnte förmlich sehen, wie sich Oreas Widerstand widerwillig aber sicher in Rauch auflöste, wie die Wut in seinen Augen einer schmerzhaften Erkenntnis wich. Matt nickte er.
Der Rest der Nacht zog wie ein Traum an Celia vorbei. Im Nachhinein konnte sie sich nicht an die Details erinnern, daran, wie sie in aller Eile ihre Sachen wahllos in den Rucksack stopfte und sich mit Oreas zu den Ställen schlich. Sie hatte Heria schon ewig nicht mehr gesehen, aber trotzdem erkannte sie sie wieder. Zum Glück war außer ihnen kaum ein Mensch wach – die Feiern der letzten Tage waren sehr ausgeufert. Elikos wirkte seltsam, fast wie eine Geisterstadt, und das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster hallte an den Wänden der Häuser wider.
Am Tor angekommen stellte sich ihnen das erste Hindernis. Die Soldaten, die das äußere Tor bewachten, bemerkten sie trotz ihrer Unaufmerksamkeit und wussten nicht so recht, wie sie sich entscheiden konnten. Es machte sie augenscheinlich misstrauisch, dass sie ausgerechnet durch das Westtor wollten. Doch Oreas hatte sich schon eine Maske aus Langeweile zurechtgelegt.
„Hört mal“, begann er „Ich weiß, dass ihr uns misstraut. Aber so seid ihr uns am Ende wenigstens los. Und wir haben auch keine Informationen, die der Feind nicht von selbst hätte erraten können. Wir sind weg, ihr seid uns los, und alle sind zufrieden, also lasst und durch.“
Nicht alle, dachte Celia, während die beiden Soldaten sich nur zweifelnd ansahen, bis der Hauptmann zögerlich nickte. Der andere setzte den Mechanismus in Gang, der die Tore knarrend auseinanderfahren ließ.
Es dauerte eine Ewigkeit, oder zumindest kam es ihr so vor, bis sie endlich das Tor passiert hatten und außer Schussweite waren. Erleichtert atmete Celia aus. Es war unangenehm gewesen, mit dem Rücken zur Stadt zu reiten.
„Freu dich nicht zu früh. Der schwierige Teil kommt erst noch. Wir müssten an den Rebellen vorbei. Das wird uns eine Menge Zeit kosten“, bemerkte Oreas finster.
Und sie hatten noch nicht einmal ihr Ziel festgelegt, fiel Celia auf. Doch sie nickte nur stumm.