01: Nichts hält für immer
Wenn man jung ist, dass denkt man, Freundschaft hält für immer.
Du sitzt mit deinen Freunden im Garten, nachdem ihr Fangen gespielt oder den Hund geärgert habt, und ihr redet darüber, was ihr mal werden wollt. Höcchstwahrscheinlich Fußballspieler, Polizist oder Astronaut. Nichts, was man später wirklich wird. Und dann stellst du dir vor, wie du dann immer noch mit ihnen befreundet bist. Wie sie dich besuchen kommen, um mit dir Playstation zu spielen. Oder was Erwachsene so machen. Es kommt dir nicht in den Sinn, dass sie neue Freunde finden, oder wegziehen. Oder auch nur auf eine andere Schule gehen. Und keine sechs Monate später sind sie Vergangenheit. Nur noch eine Erinnerung. Wenn du ihnen auf der Straße begegnest, ignorierst du sie. Und sie dich. Und wenn man es dir sagen würde, dass alles so kommt, während du da im Garten sitzt, nachdem ihr Fußball gespielt habt oder um die Wette gelaufen seid, dann würdest du es niemals glauben. Nein, du würdest sagen, dass ihr euch natürlich weiter schreiben würdet, wenn einer wegzieht, dass ihr auch trotz neuer Freunde noch rumhängen und Yu-Gi-Oh!-Karten tauschen würdet, und natürlich, dass eine andere Schule niemals ein Hindernis wäre. Ihr seid schließlich beste Freunde, da ist das selbstverständlich. Und wenn ich dir dann sage, dass es aber wahr ist, würdest du mich auslachen oder beschimpfen oder so. Du bist ja noch jung, und wenn man jung ist, dann denkt man, Freundschaft hält für immer. Aber das stimmt nicht. Nichts hält für immer.
*
Ich war einmal jung. Und ich dachte, unsere Freundschaft hält für immer. Heute weiß ich, dass das naiv war. Aber ich habe es geglaubt. Und sie hat tatsächlich gehalten. Wir waren unzertrennlich. Das haben alle gesagt. Und alle haben sich gewundert, wieso, denn wir waren ein wirklich ungleiches Paar. Ich war schon immer eher ruhig und verschlossen. Hatte kaum Freunde. Um genau zu sein, war er mein einziger. Kein Mensch hätte mich jemals bemerkt, wenn ich nicht mit ihm zusammengewesen wäre. Er war immer das genaue Gegenteil von mir. Offen, beliebt, er hatte immer viele Freunde.
Manchmal frage ich mich, wieso er sich überhaupt mit mir abgegeben hat. Aber er hat es getan. Und wir waren die besten Freunde. Unzertrennlich. Das hatte sich noch nicht einmal geändert, als er ein Schuljahr wiederholen musste. Wir waren immer noch unzertrennlich. Und als ES passiert ist, da habe ich an unserer Freundschaft gezweifelt. Aber ich habe mich wieder gefangen und ihn nicht verraten. Damals. Da dachte ich, dass nach dieser Sache nichts unsere Freundschaft zerstören würde. Dabei hätte ich es besser wissen müssen. Ich war schließlich nicht mehr jung.
Richtig fing es an, als ich mein Abi in der Tasche hatte. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich hätte die ganze Welt umarmen können. Stattdessen habe ich ihn umarmt. Und er hat sich für mich gefreut. Ich hatte es geschafft. Trotz des Gräuels. Und er hat sich mit mir gefreut. Aber das war damals. Vor vier Jahren. Und ich war jung, egal was ich dachte.
Als ich mein Abi hatte, kam erst mal der Zivildienst. Ich war so beschäftigt, dass ich ihn nicht mehr so oft sehen konnte. Aber er hat mich trotzdem immer wieder zu Partys mitgeschleift, auf denen ich mich nicht wohlfühlte, weil ich niemanden kannte und er mit den Mädchen beschäftigt war. Wir sahen uns immer seltener. Ich musste ja auch Zeit auf meine Bewerbung verwenden. Und ich bekam tatsächlich einen Platz. Und er sein Abi. Ich freute mich für ihn wie er sich für mich, aber ich war nicht auf der Party. Da kannte ich ja niemanden. Und ihm wäre es sowieso nicht aufgefallen. Ich wusste nicht einmal, ob er schon von meinem Studienplatz wusste. Dann machte er den Zivildienst. In Süddeutschland. Wir sahen uns nicht mehr. Bei der Abreise hatte er mit versprochen, jede Woche zu schreiben. Er schrieb vielleicht einmal im Monat.
In dieser Zeit war ich vollkommen in mein Studium vertieft. Grafik-Design lag mir wirklich, und ich liebte es. Nebenher zeichnete ich immer noch meine Comics. Wäre ich nicht so alleine gewesen, es wäre die Zeit meines Lebens gewesen. Aber ich war allein. Weil er nicht da war. Ich wusste nicht einmal, was er machte. Vermutlich amüsierte er sich mit Mädchen und seinen neuen Freunden auf irgendeiner Party.
Irgendwann lag dann wieder ein Brief in meinem Briefkasten. Na ja, es war mehr eine Notiz. Er würde auch hier studieren. Deutsch und Sport auf Lehramt. Ironie des Schicksals, wenn ihr mich fragt. Wir trafen uns ein paar Mal und ich half ihm beim Umzug. Er lachte mit mir, wie früher, und mir wurde klar, dass es das war, was ich wirklich wollte. Jetzt, wo wir wieder in einer Stadt wohnten, wer weiß, vielleicht würde es wieder wie früher werden. Ich war immer noch jung.
Er hatte bald neue Freunde gefunden, die mit ihm studierten. Ein paar stellte er mir vor. Ich mochte sie nicht. Sie mochten mich nicht. Ein misanthropischer Künstler. Das war es, was sie sahen. Ich fühlte mich nicht wohl. Wann immer er mit ihnen zusammen war, mied ich ihn. Und er bemerkte es nicht einmal, so beschäftigt war er. Aber wir grüßten uns immer noch. Wenn er mal nicht mit ihnen zusammen war, dann redeten wir ein bisschen. Nur Smalltalk. Nicht wie früher. Da war nur noch eine unangenehme Stille. Irgendwann war er nur noch mir ihnen zusammen. Mich bemerkte er kaum noch. Irgendwann, ich weiß nicht mehr, wann es war, höte er auf, mich zu grüßen. Und ich zu träumen. Ich war nicht mehr jung. Und ich wusste, dass nichts für immer hält. Auch Freundschaft nicht.
*
Mir fiel es schwer, Anschluss an andere Menschen als Janis zu finden. Aber irgendwie gelang es mir. Da war zum Beispiel Simon. Ziemlich schüchtern, aber wenn man ihn erst mal kannte, war er einer der besten Freunde, die man sich vorstellen konnte. Und Katharina. Ein bisschen alternativ und überdreht, aber wenn sie mal fünf Minuten stillsaß und nicht predigte, war sie schwer in Ordnung. Wir trafen uns alle öfter bei David, dessen Eltern genug Geld hatten, um ihm eine Wohnung zu finanzieren. Wir zogen ihn immer damit auf. Eigentlich hätte alles wieder in Ordnung sein müssen. Aber so war es nicht. Ich fühlte mich immer noch leer. So, als fehle ein Teil von mir. Und dieser Teil war Janis. Ohne ihn war das nicht das selbe. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber in ruhigen Momenten, wenn ich alleine in meinem Zimmer im Bett lag und versuchte, zu schlafen, vermisste ich ihn schrecklich. Trotzdem rief ich nie an.
Seitdem konnte ich es nicht mehr ertragen, nichts zu tun. Ich wurde sofort zappelig. Früher hatte ich stundenlang den Regentropfen dabei zusehen können, wie sie an einer Fensterscheibe herunterliefen. Jetzt ging das nicht mehr. Wann immer ich nichts mehr mit mir anzufangen wusste, malte ich. Ich malte viel. Meine Freunde staunten nur. Alle anderen hielten mich für verrückt. Ich denke, sie hatten recht. Meine Bilder wurden immer dunkler. Fast nur noch schwarz und rot. Als meine Mutter das eines Tages sah, riet sie mir, zum Psychologen zu gehen. Ich tat es nicht. Ich malte einfach weiter. Das half.
David erzählte öfter von Janis. Schon seltsam, dass wir einen gemeinsamen Freund hatten, obwohl wir uns nicht einmal mehr grüßten. Wieder, Ironie des Schicksals. Wann immer ich die beiden zusammen sah, mied ich sie. Ich wusste nicht einmal wieso. Daraufhin dachten meine Freunde, ich würde Janis nicht mögen. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren. So musste ich wenigstens nicht in seiner Nähe sein.
Eines Tages erzählte David, dass er eine Freundin hätte. Janine. Ich sah sie zusammen. Sie war schön. Hatte die Figur eines Models. Ich konnte nicht verstehen, was Janis an ihr fand. Sie hatte mehr Make-up im Gesicht als ein Clown und war unter Garantie dumm wie Stroh. Ich hasste sie. Als ich das realisierte, verstand ich mich selbst nicht mehr. Na ja, noch weniger als sonst jedenfalls. Etwas stimmte nicht. Also versuchte ich, dem auf den Grund zu gehen. Es gab keinen Grund für mich, Janine zu hassen. Und doch tat ich es. Ich machte, was ich immer machte, wenn ich nachdachte. Ich zeichnete. Ich versuchte, Janine zu zeichnen. Aber es gelang mir nicht. Jedes Mal zerriss ich das Bild, bevor es auch nur halb fertig war. Ich zeichnete, wann immer ich konnte.
Ich saß im Park, als ich die Antwort endlich fand. Unter einem Baum. Im Schatten. Auf dem Gras. Da sah ich sie. Janine und Janis. Sie lachten. Eigentlich sah ich Janine gar nicht. Nur Janis. Früher hatte er oft gelacht. Praktisch ständig. Nachdem ES passiert war, hatte er nicht mehr so oft gelacht. Ich hatte sein Lachen vermisst. Also malte ich es. Als das Bild fertig war, hielt ich es in die Luft und sah es schräg an. Ich hatte ihn gut getroffen. Janis war wirklich gutaussehend. Besonders, wenn er lachte. Ich musste lächeln. Vermutlich das erste Mal sein Monaten. Ein echtes Lächeln. Dabei schmerzte es unheimlich, an ihn zu denken. Ich sehnte mich so nach ihm. Wollte bei ihm sein. Mit ihm reden. Mit ihm lachen. Aber er hatte ja schon Janine. Da verstand ich, dass ich Janine nicht wirklich hasste. Nein, das wäre gelogen. Ich hasste sie. Sie hatte mir das weggenommen, was ich haben wollte. Janis. Und dafür hasste ich sie. Aber hauptsächlich war ich eifersüchtig. Ich wollte es sein, bei dem Janis sich wohl fühlte, mit dem er über alles redete, der jede freie Minute mir ihm verbrachte, den er …
Ich weiß nicht, wie lange ich mit weit aufgerissenen Augen unter diesem Baum im Park gesessen habe. Aber das war der Moment, in dem der Schleier, der all die Jahre über meinen Augen gelegen hatte, fiel. Ich konnte zum ersten Mal klar sehen, was ich wollte – und dass ich es niemals haben würde.