Das Gräuel
Ich starrte nun schon seit Minuten auf das Blatt Papier, das vor mir auf dem Tisch lag. Recyclingpapier. Liniertes Klausurpapier. Die Rückseite, die auf meinem neuen Block, ich hatte ihn mir erst einige Wochen zuvor gekauft, war auch liniert (nicht wie bei dem alten). Sie war nicht beschrieben, das war nur die Vorderseite und man konnte die schwarzen Linien hindurchschimmern sehen. Aber das viel mir in diesem Moment alles gar nicht auf. Meine Aufmerksamkeit galt nun schon seit schätzungsweise fünf Minuten den beiden Zahlen, die groß mit dünnem Rotstift auf meiner Vorabi-Klausur standen. Die erste war eine Null und die zweite eine drei. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Besser konnte man das wirklich nicht beschreiben. Ich hatte einfach versagt.
Langsam drang auch wieder die Wirklichkeit zu mir durch. Linda beschwerte sich. Mal wieder. Das tat sie auch, wenn es gut gelaufen war, also kümmerte ich mich nicht weiter darum. Dann viel mein Blick auf die Hände links neben mir. Sie zitterten. Nach zwei Sekunden entdeckte ich auch die Ursache. Auf Annes Klausur standen auch zwei Zahlen. Eine Null und eine Fünf. Ein Ergebnisse, das mich wahrscheinlich dazu gebracht hätte, Luftsprünge zu machen. Bei Anne lag der Fall allerdings anders. Sie war Kursbeste und schrieb für gewöhnlich mindestens zwölf Punkte. Irgendwie wollte ich sie gerne trösten, aber ich wusste beim besten Willen nicht wie.
Dann erregte eine plötzliche Bewegung vor mir meine Aufmerksamkeit. Eine schrecklich braungebrannte Hand mit Wurstfingern und rot lackierten Nägeln gab dem Mädchen rechts von mir einen Stapel Papier, der meinem verdächtig ähnlich sah, nur die Zahl auf der Rückseite war eine andere. Und wie meine Lehrerin uns auch allen mitteilen musste, handelte es sich um die einzige zweistellige Zahl. Zehn Punkte. Berauschend viel, wenn man bedachte, dass von den dreizehn Schülern in diesem Kurs schätzungsweise fünf (wie ich später herausfand lag ich mit dieser Schätzung richtig) weniger als fünf Punkte geschrieben hatte. Und so wie Tina aussah, hatte es sie bestimmt noch schlechter erwischt.
Ich begann mal wieder meine Entscheidung, Biologie als Leistungskurs zu wählen, zu bereuen. Nicht, dass es von meinem damaligen Standpunkt nicht verständlich gewesen wäre (Biologie war immer mein bestes Fach, aber wie heißt es so schön: Alles ändert sich.), aber spätestens, als ich erfuhr, wer meine Lehrerin sein sollte, hätte ich misstrauisch werden sollen. Die Frau, deren außergewöhnlich schöne Hände ich ja bereits beschrieben habe, war nämlich berühmt-berüchtigt für ihren … nennen wir es einfach mal Unterricht, auch wenn ich unsere fünf Stunden Beschäftigungstherapie bei weitem nicht so nennen würde. Ich persönlich nutze die Zeit immer, um mit meinem 2B-Bleistift Comic-Figuren in meinen Block zu zeichnen. Das verhinderte, dass mein Kopf nach spätestens fünf Minuten auf dem Tisch lag und ich laut anfing zu schnarchen (das ist mit tatsächlich in einer Stunde am Montagmorgen passiert).
Nun liegt eigentlich die Vermutung nahe, dass meine drei Punkte das Resultat mangelnder Aufmerksamkeit im „Unterricht“ sein könnten. Eine Möglichkeit, die normalerweise in Betracht zu ziehen wäre, wenn denn der sogenannte „Unterricht“ auch Unterricht wäre. Wenn ich denn hin und wieder ein mal meine Aufmerksamkeit nach vorne lenke (sie bleibt dort aber nie lange – und das hat gute Gründe!), muss ich immer wieder feststellen, dass ich alles, aber auch absolut alles, bereits kann.
An Wissenslücken kann es also kaum liegen, dass ich in Biologie vermutlich einen Unterkurs bekommen werde. Warum also habe ich diese Klausur derart in den Sand gesetzt? Nun, das erläutere ich am besten am konkreten Beispiel:
Wie bereits erwähnt beschwerte sich Linda. Nur dieses Mal schien die Aufregung begründet zu sein. Sie redete nämlich pausenlos von der ersten Aufgabe und dass die Punktzahl absolut ungerechtfertigt war.
Was mich auf die Idee brachte, mir einmal meine Teilpunktzahlen auf dem Aufgabenblatt anzusehen. Und tatsächlich – auf die erste Aufgabe gab es ganze 15 von 52 Punkten (man sollte erklärend hinzufügen, dass es insgesamt acht Aufgaben gab). Was war denn noch einmal die erste Aufgabe? „Geben Sie die wesentlichen Informationen aus den Materialien in AMI wieder.“ Das sagte jedenfalls das Aufgabenblatt. Gut, ich dachte eigentlich, dass ich das gemacht hätte, schließlich ist das bloße Ablesen und Aufschreiben von Zahlen keine große Kunst. Was also hatte ich dieses Mal falsch gemacht? Eine Frage, auf die ich bald eine Antwort erhalten sollte.
Ich entschied mich also, meine Aufmerksamkeit wieder meiner Lehrerin zuzuwenden. An dieser Stelle wäre vielleicht eine Beschreibung angebracht. Frau Gruel war um die Fünfzig, und sie hielt sich für ausgesprochen attraktiv. Die Betonung liegt hier auf „hielt“. Sie sah nämlich schon seit Jahren so aus, als wäre sie im achten Monat schwanger (als ich sie das erste Mal sah dachte ich das wirklich!). Ihre ausgeprägten Rundungen muss sie immer durch sehr betonte Kleidung zur Schau stellen. An diesem Tag eine grelle rote Jacke (natürlich mit großen Schulterpolstern) einer bunten Bluse und einem leuchtend gelben Halstuch. Nun, soweit könnte man sie noch ertragen (schließlich leiden Lehrer alle unter chronischer Geschmacksverirrung), wenn dazu nicht noch ihr Gesicht käme, einer der Gründe, warum ich nie nach vorne sah. Frau Gruel sah nämlich aus wie eine Bulldogge. Wirklich. Um diese „natürliche Schönheit“ zu betonen benutzte sie Make-up. Viel Make-up. Ich schätzte die Schicht auf fünf Millimeter Dicke. Dazu kam noch, dass sie nicht mit ihrer Schminke umgehen konnte. Der Vergleich mit einem Clown ist hier sehr passend.
Frau Gruel (im Folgenden das Gräuel genannt) erklärte nun also, was sie von uns in der ersten Aufgabe erwartet hatte. Und ich stellte tatsächlich fest, welchen Fehler ich gemacht hatte. Gar keinen! Das Gräuel konnte nämlich keine Aufgaben formulieren. Ich hatte tatsächlich das wesentlich aufgeschrieben. Nur wollte das Gräuel leider ALLE Informationen. Aufgaben müsste man stellen können.
Anne neben mir hatte inzwischen offenbar genug Selbstbeherrschung zusammen-gekratzt, um wieder etwas zu sagen. Sie machte unsere Lehrerin freundlich darauf aufmerksam, dass sie die Aufgabe aber ganz anders gestellt hatte. Die Antwort blieb allerdings aus, da die Schulglocke läutete. Das Gräuel machte sich sofort auf den Weg, sich irgendetwas Essbares zu besorgen und ließ uns im Raum zurück (wir hatten unglücklicherweise eine Doppelstunde).
Während die anderen lautstark zu klagen begannen, widmete ich mich wieder meiner Klausur. Aha, bei der fünften Aufgabe fehlten mir auch einige Punkte, und das, obwohl ich gedacht hatte, dass ich bei ihr alles aufgeschrieben hatte. Es ging um zwei Kleiberarten und es wurde lediglich von einem verlangt, die physischen Merkmale im Zusammenhang mit dem Verbreitungsgebiet zu nennen.
Ich fragte Anne, und die sagte es liege daran, dass ich die Streifen vergessen hatte. Bitte? Streifen? Ich holte noch einmal die sehr undeutliche Kopie mit den stilisierten Zeichnungen der Kleiber hervor. Aha. Streifen. Wenn man sich sehr viel Mühe gab, entdeckte man einen Unterschied. Er war mir in der Klausur sogar aufgefallen, ich dachte lediglich, dass der Zeichner ein halbblinder Parkinsonkranker wäre, der nicht in der Lage war, einen geraden Strich zu ziehen. Die Kopie tat ihr Übriges.
Ich seufzte tief, blendete die anderen aus (sie gaben sich immer noch Mühe und hofften, ich hatte längst resigniert) und zeichnete die restlichen 45 Minuten Elfen in meinen Block. Dem Unterricht folgte ich kaum noch. Ich bekam nur noch mit, dass sich meine Mitschülerinnen (ich war der einzige Junge in Kurs und hatte so schon von Natur aus nicht gerade einen Stein im Brett beim Gräuel) mit dem Etwas (sie als Frau zu bezeichnen kam schon fast einer Beleidigung dieses Geschlechts gleich), das so tat, als würde es uns unterrichten, stritten. Sie würden keinen Erfolg haben. Das Gräuel terrorisierte nun schon seit Jahrzehnten Schüler und bisher war keiner sie losgeworden.
Ich seufzte tief und hoffte auf ein baldiges Ende dieser Folter.
*
Am Ende des Schultages war ich immer noch ziemlich deprimiert. Ich würde einen Unterkurs in Biologie bekommen. Das war mir sicher. Ich hatte schon lange nichts Besseres als vier Punkte geschrieben und meine mündliche Note war dank meiner Bemühens nicht einzuschlafen auch nicht gerade groß. Mein kleines Nickerchen von vor über meinem Jahr hatte mir das Gräuel wohl immer noch nicht verziehen.
Ich stand wie immer alleine an der Bushaltestelle und kramte in den Tiefen meines Rucksacks nach meinem alten Walkman. Bevor ich ihn allerdings fand, erblickte ich eine mir wohlbekannte Gestalt, die auf mich zukam. Janis grinste wie immer. Warum er das tat weiß ich bis heute nicht, aber es lag garantiert nicht daran, dass er immer so fröhlich war. Als er mich schließlich erreicht hatte, klopfte er mir aufmunternd auf die Schulter und kam gleich zur Sache: „Hi, ich hab’ gerade gehört, dass ihr Bio zurückbekommen habt. Herzliches Beileid!“
„Danke für das Vertrauen in meine Fähigkeiten, du weiß ja noch nicht einmal, was ich bekommen habe!“
Janis hob eine Augenbraue.
„Das ist nicht so schwer zu erraten, ich kenn’ das Gräuel schließlich!“
Oh ja, das stimmte, er kannte sie wirklich zu gut. Es ist nämlich nicht ganz korrekt, dass ich der einzige Junge in meinem Leistungskurs war. Bis zum Ende der Zwölften war Janis im selben Kurs. Muss ich erwähnen, dass er nur dank des Gräuels wiederholte? Er hatte sogar andere Leistungskurse gewählt. Das war allerdings ein schwerer Fehler. Jetzt unterrichtete ihn das Gräuel nämlich immer noch, und gab ihm sogar noch schlechtere Noten. Wenn das so weiter ging, würde er sein Abi nie bekommen. Zwischen den beiden herrschte eine Art Erzfeindschaft. Janis hatte nie etwas besseres als zwei Punkte bei ihr bekommen, und letzte Woche hatte sie ihm sogar Null Punkte gegeben. Ich wage zu behaupten, dass nie jemand das Gräuel mehr gehasst hat als Janis.
Janis war noch einer der Gründe, warum ich sie so sehr hasste. Er war schon seit Ewigkeiten mein bester Freund und wir hingen immer zusammen. Das sie so mies mit ihm umsprang machte mich nur noch wütender.
„Hab’ drei Punkte bekommen, und Anne hat nur fünf.“
„Scheiße …“
Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Was soll’s?“
„Langsam ist das echt nicht mehr lustig.“
„War es das je?“
„Ich seh’ schon, heute ist echt nicht dein Tag. Ich hätte aber ein paar nette Ideen, die muntern dich garantiert auf. Stell dir nur mal vor, du legst tote Ratten zwischen Gräuels Post oder zerkratzt ihr ihren superteueren BMW …“
Janis kam richtig ins schwärmen und mich erheiterte die Vorstellung einer entsetzten Gräuel mit einer toten Ratte vor ihren Füssen auch. Janis schaffte es immer wieder, mich in solchen Situationen wieder auf die Beine zu bringen. Ich vermisste ihn wirklich. Und das, obwohl ich ihn jeden Tag sah und wir nachmittags öfters zusammen Hausaufgaben machten. Aber es war nicht dasselbe. Besonders in Gräuels Unterricht fehlte er mir.
Janis steigerte sich immer weiter in seine Fantasien hinein und auch ich hätte um ein Haar die sich nähernde Gefahr nicht erkannt. Das Gräuel kam auf uns zu. Ich verpasste Janis einen Stoß in die Rippen und er hörte auf herumzualbern und entdeckte nach einem Nicken meinerseits die Gräuel ebenfalls.
So wie es aussah hielt sie direkt auf uns zu. Einen Meter vor uns blieb sie stehen, lächelte Janis und mich an (ich hätte es vielleicht besser als sarkastisches Grinsen bezeichnen sollen) und musterte uns erst einmal ausgiebig.
„Also wissen Sie, statt hier herumzualbern sollten Sie lieber lernen, so wie es im Moment um Sie beide steht, sieht es nicht so aus, als würden Sie jemals ihr Abitur bekommen.“
Ich war sauer. Das war noch nicht gesagt. Auch wenn es dank ihrer Bemühungen womöglich eng werden konnte, in unseren anderen Fächern standen Janis und ich nicht so schlecht.
Wir mussten sie sehr ungläubig und gehässig angesehen haben, denn ihr Grinsen wurde immer breiter und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen fügte sie noch den Satz hinzu, der das Fass zum überlaufen bringen sollte: „Besonders Sie, Janis, sollten sich mehr bemühen, so wie es im Moment um Sie steht, werden Sie in meinem Kurs null Punkte bekommen.“
Ich war nur noch wütend. Wie konnte sie ihm so etwas nur antun? Das war nun wirklich nicht mehr fair. Ich warf einen kurzen Blick zu Janis – und erstarrte. Er grinste nicht mehr. Sein Gesicht war verzerrt von Wut. So wütend hatte ich ihn in all den Jahren nicht gesehen und das machte mir Angst. Fast automatisch griff ich nach seinem Shirt, bereit, ihn notfalls mit Gewalt von einer Dummheit anzuhalten.
Dem Gräuel war dieser Stimmungswechsel nicht entgangen. Und sie schien … zufrieden zu sein? Sie war zufrieden, und das obwohl Janis (er spielte Volleyball im Verein und war 1.80 groß) vor Wut und Hass fast am überkochen war und sie jeden Moment anfallen könnte. Sie grinste nur zufrieden und ging dann ganz langsam um die nächste Straßenecke in eine Nebenstraße, in der sie immer ihr Auto parkte, damit es nicht gestohlen werden konnte (das hatte sie uns mehrfach im „Unterricht“ erläutert).
Ich starrte ihr einfach nur hinterher, bis der Bus neben uns hielt und Janis mich aus meiner Trance befreite. Er ging einfach in den Bus und zog mich unabsichtlich mit, da ich ihn immer noch festhielt.
Den Großteil der Busfahrt saßen wir schweigend nebeneinander. Irgendwann entschied ich mich, doch etwas zu sagen.
„Vielleicht sollten wir zum Direx gehen …“
„Der kann mir auch nicht mehr helfen.“
„Aber es ist doch so offensichtlich, dass sie dich hasst, und schlimmer kann es auch nicht mehr werden!“
„Er wird ihr doch höchstens sagen, sie soll ihre Entscheidung noch mal überdenken, und das wird sie nie tun! Du kennst doch den Direx, der kann sich einfach nicht gegen sie durchsetzten.“
Alle weiteren Versuche, ihn aufzumuntern, scheiterten kläglich. Er schien über irgendetwas zu brüten. Ich konnte mir denken über was. So wie jetzt hatte ich Janis noch nie erlebt. Seine schwarzen Haare und die blauen Augen schienen gar keinen Glanz mehr zu haben. Er reagierte noch nicht einmal, als ich mich von ihm verabschiedete und ihm einen letzten besorgten Blick zuwarf. Ich war ernstlich beunruhigt.
*
Am nächsten Morgen hatte ich immer noch ein flaues Gefühl im Magen, konnte es mir aber nicht so recht erklären. Janis schien es auch schon besser zu gehen. Er hatte sich beruhigt und grinste wieder, aber auf mich wirkte dieses Grinsen zum ersten Mal aufgesetzt. Ich fragte mich, ob ich ihn ansprechen sollte, entschied mich aber dann dagegen. Wer wusste schon, wie er darauf reagiert hätte?
Der Unterricht lenkte mich schlussendlich so von diesem Problem ab (ich hatte keine Stunde beim Gräuel und war somit zu beschäftigt zum Nachdenken), dass ich es am Nachmittag schon vollkommen vergessen hatte. In Geschichte und Erdkunde hatte ich einen ganzen Batzen Hausaufgaben bekommen und in Kunst musste ich noch ein Projekt fertig stellen (ich war schon sehr im Verzug, Kunstlehrer und ihre utopischen Vorstellungen von der Freizeitgestaltung ihrer Schüler …).
Um eben dieses Projekt (ein Modell einer selbstentworfenen Bushaltestelle basteln) doch noch im Zeitrahmen zu beenden, brauchte ich allerdings noch die nötigen Materialien (mit den Holzresten in der Schule konnte man nie wirklich viel anfangen). Und die musste ich mir im Bastelgeschät ein paar Straßen weiter besorgen. Ich seufzte. Den Bus würde ich nicht mehr kriegen. Der nächste ging erst in einer Stunde.
Mit nicht gerade viel Elan machte ich mich also auf den Weg zum Einkaufen und schlenderte die leeren Straßen entlang. In normalen Städten wären diese Straßen jetzt voller Menschen, aber im Falle meiner Heimatstadt war das etwas anders. Sie liegt wirklich am Arsch der Welt und manchmal frage ich mich, ob die ganzen Häuser vielleicht nur Attrappen sind. Es gab kaum Geschäfte, nur einen Döner-Laden, der sich hauptsächlich durch die Schüler finanzierte, ein Buchgeschäft (mit der selben Kundschaft) und einen Bastel- und Schreibwarenladen (wer dort einkaufte muss wohl nicht noch extra genannt werden).
Ich war vollkommen in Gedanken versunken, als ich mir einem Mal merkwürdige Geräusche hörte. Ich konnte sie gar nicht einordnen und ich kann sie an dieser Stelle auch nicht ausreichend beschreiben, da ich keinen passenden Vergleich finde.
Neugierig wie ich nun einmal war, musste ich natürlich nachsehen und näherte mich der Nebenstraße, aus der sie kamen.
Im ersten Moment verstand ich nicht, was ich da sah. Die Situation wirkte derart bizarr, dass sie sich vollkommen meinem Verständnis entzog. Erst nach der sogenannten Schrecksekunde begriff ich: Vor mir beugte sich Janis (mit dem Rücken zu mir) über etwas. Und dieses etwas hatte auffällig bunte und hässliche Kleidung an, die Hände waren braungebrannt und rot lackiert. All das nahm ich sozusagen als Standbild war, doch dann kam Bewegung in die Sache.
Ich sah, wie Janis mit beiden Händen etwas hochhob, dass metallisch glänzte und dann mit aller Kraft in den Körper vor ihm stieß. Aha, daher kam also das Geräusch.
Ich weiß nicht, wie lange ich so betäubt dastand, aber irgendwann ging ich einfach weiter. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Die Erkenntnis war gerade dabei, in mein Gehirn vorzudringen, hatte es aber noch nicht vollständig erreicht.
Irgendwie erreichte ich dann den Bastelladen und kaufte mir, was ich brauchte. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Auch wenn mein Körper Dinge tat, mein Geist war irgendwo anders.
Erst als ich mit meiner Einkaufstüte an der frischen Luft stand und mich schlagartig seltsam befreit fühlte, begriff ich. Janis hatte das Gräuel umgebracht. Einfach so. Mein bester Freund hatte meine Lehrerin umgebracht. Mir drängte sich die nächste Frage auf. Was sollte ich jetzt tun? Meinen besten Freund an die Polizei verraten? Oder die Sache einfach vergessen.
Während ich den Weg zurück zur Bushaltestelle ging, kam ich immer noch zu keiner Antwort. Janis war immer für mich da gewesen und ich fühlte mich ihm gegenüber auf eine Art loyal, die alles andere überstieg. Ich hatte ihm immer blind vertraut. Aber konnte ich das jetzt noch? War das wirklich noch mein bester Freund? Diese Seite an ihm jagte mir einen Schauer über den Rücken. Nie im Leben hätte ich ihm einen Mord zugetraut.
Die ganze Zeit über hatte ich nicht aufgeblickt. Erst, als ich die Bushaltestelle erreicht hatte, riss mich etwas mit aller Gewalt aus meinen Gedanken. Es war Janis’ Stimme.
„Hi Alex, warum bist du denn noch hier?“
Ich antwortete automatisch.
„Musste noch ein paar Sachen für Kunst kaufen.“
Für eine Sekunde flackerte etwas über sein Gesicht. Dann lächelte er wieder nervös. Er grinste nicht. Ich fragte auch nicht, warum er noch da war, wie ich es sonst getan hätte. Ich starrte einfach nur apathisch in die Gegend. Ich wusste es schließlich schon. Und er wusste, dass ich es wusste. Schließlich war klar, dass ich auf dem Weg zum Laden an der Nebenstraße vorbeikommen würde.
Wir schwiegen uns einfach an. Als der Bus kam, stiegen wir wie immer ein und setzten uns wie immer nebeneinander. Wir schwiegen weiter.
Irgendwann blickte ich auf und musterte Janis, der in Gedanken versunken aus dem Fenster starrte. Dann erst fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich würde ihn nicht verraten, das könnte ich gar nicht. Er war immer noch derselbe und doch war er es nicht. Aber er würde weiterhin mein bester Freund bleiben?
Der Bus hielt und ich stand auf
„Bis Morgen dann.“
Janis sah mich einen Moment entgeistert an, dann lächelte er und sagte: „Ja, bis Morgen.“
Ich stieg aus.
Ich dachte nicht einen Moment über das nach, was ich tat.
Ich wäre mit Schuld an einem Mord. Oder wie auch immer man das nennt.
Ich war Schuld an dem Tod eines Menschen.
Und um ehrlich zu sein, ich war der Ansicht, das Gräuel hätte es verdient.
Ich weiß bis heute nicht, wie Janis das Messer hat verschwinden lassen, oder die anderen Spuren. Ich habe ihn auch nie gefragt. Die Polizei hatte die Leiche am nächsten Tag gefunden. Und natürlich war ich befragt worden. Ich sagte, ich hätte nichts gesehen, als ich an der Straße vorbeigegangen war. Janis war auch befragt worden und hatte auf die Frage, warum er einen Bus später gefahren sei geantwortet, er habe auf mich gewartet, da wir immer zusammen gefahren seien. Ich hatte dem nicht widersprochen.
Warum Janis das eigentlich getan hatte? Auch wenn ihr jetzt denkt, das wäre offensichtlich, das ist es nicht. Ich habe ihn einmal gefragt, das einzige Mal, dass wir darüber gesprochen haben, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich jedenfalls habe ihn gedeckt und mich somit mitschuldig gemacht.
Und ehrlich, ich habe es bis heute nicht bereut.
Fin