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Rodo, 2023

Ijime oder: Vier Tage im Oktober

Eigentlich war es ein vergleichsweise normales Zimmer. Aber was hatte er auch erwartet, schwarz gestrichene Wände, ein fast leer geräumtes Zimmer nur mit einem Computer und einem Bett? Das Bett stand an der gegenüberliegenden Seite der Tür. Die Bettwäsche war schlicht, grün und weiß gestreift. Einen Computer gab es tatsächlich. Er stand auf dem Schreibtisch neben der Tür. Neben dem Schreibtisch war ein großes Bücherregal. Das war im ganzen Zimmer das einzig Ungewöhnliche. Normale Jugendliche besaßen heutzutage kaum noch Bücher. Sie besaßen hauptsächlich Videos und CDs. Die gab es in diesem Zimmer kaum. Es waren fast nur Fantasy und Science-Fiction-Filme, außerdem fanden sich einige Soundtracks. Eigentlich hatte er Horrorfilme und Death Metal Musik erwartet. Die Bücher, so stellte er bei näherer Betrachtung fest, waren ebenfalls aus dem Fantasy- oder Science-Fiction-Genre. Außerdem gab es etliche Klassiker. Auf dem Schreibtisch lag eine sehr abgenutzte Ausgabe von Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Christo. An den Wänden hingen einige Filmposter, Star Wars, Der Herr der Ringe und Star Trek. Computerspiele gab es gar keine. Offenbar wurde der Computer hauptsächlich zum Schreiben benutzt. Kommissar Schlichting schnaubte leicht. Er war enttäuscht. Mehr als enttäuscht. Er war ratlos. Nichts an diesem Zimmer war auffällig oder außergewöhnlich. Bis auf den Jungen, der darin gewohnt hatte.

Kommissar Bernd Schlichting war an vieles gewöhnt. Seit er bei der Polizei angefangen hatte, hatte er alle Spielarten der Bösartigkeit der menschlichen Psyche erlebt, vom einfachen Wiederholungstäter bis zum Psychopathen. In den zwanzig Jahren, die er jetzt schon Mordfälle bearbeitete, hatte er gelernt, dass alle Mörder mehr oder weniger verrückt oder gestört waren. Für Schlichting war die Welt voll von Menschen, die die Anlagen eines Mörders besaßen und die nur darauf warteten dieses Potential auch einzusetzen. Dieser Fall jedoch erschütterte sein Weltbild. Es gab gar nichts Ungewöhnliches.

Seine Lebenseinstellung schlug sich auch in Schlichtings Gesicht nieder. Er hatte ungewöhnlich viele und tiefe Falten, obwohl er erst Mitte vierzig war. Vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass er Kettenraucher war. Seine Haare waren braun und fast militärisch kurz. Der Kommissar war 1,90m groß und er hatte einmal recht gut ausgesehen, natürlich bevor er die Falten bekam. Heute hatten die jüngeren Polizisten alle etwas Angst vor ihm. Sie fürchteten, er würde sie bei jedem kleinen Fehler zur Schnecke machen. Das lag wohl an seinem immer mürrischen Gesichtsausdruck, jedenfalls vermutete er das.

Schlichting ging jetzt die Treppe hinunter, wendete sich unten nach links und betrat das Wohnzimmer. Auch hier gab es nichts Ungewöhnliches. Es gab ein Sofa und zwei Sessel, die um einen kleinen Tisch herum angeordnet waren. Gegenüber standen einige Schränke. Alles war auf den Fernseher ausgerichtet, der in einen der Schränke integriert war. Es dominierten Brauntöne. Die Wände waren elfenbeinfarben gestrichen, über der Sitzgarnitur lagen gelblich orange Decken, die mit einem dunkelbraunen Muster bestickt waren. Die restlichen Möbel waren aus Holz. Zwei seiner Kollegen standen rechts von der Tür vor einer Zimmerpalme. Oest und Herkner hatten offenbar auf ihn gewartet und beendeten ihre Unterhaltung. Schlichting hatte nicht verstanden, worüber sie geredet hatten, vermutlich über den Fall. Sie hatten geflüstert, damit die beiden, die auf dem Sofa saßen, sie nicht verstanden. Bei ihnen handelte es sich um die Eltern des Jungen. Sie saßen nah beieinander. Die Frau, Ende dreißig, trug ein weinrotes Kostüm und schluchzte in ihr Taschentuch. Ihr Mann war etwa in Schlichtings Alter. Er trug einen Anzug und sah seine Frau mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Unverständnis an. Schlichting ging zu einem der Sessel und setzte sich. Er war an Ähnliches gewöhnt und begann die Unterhaltung mit derselben Frage wie immer: „Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas an Ihrem Sohn aufgefallen?“

Die Frau, Erika Böschen, schluchzte noch heftiger, schüttelte aber schließlich den Kopf. Ihr Mann Dirk sah Schlichting mit einem undefinierbaren Ausdruck auf dem Gesicht in die Augen und sagte: „Nein, es war alles wie immer. Er war immer zurückhaltend und sehr introvertiert, Freunde hatte er auch kaum. Er ist nie zu uns gekommen, wenn er Probleme hatte. Er hat immer alles in sich hineingefressen und war so sensibel.“ Er starrte auf den Boden und schwieg eine zeitlang, dann fügte er mit zitternder Stimme hinzu: „Bitte, wenn Sie herausfinden warum, sagen Sie es uns.“

Schlichting nickte.

„Eine Frage noch, wissen sie, woher er die Waffe hatte?“

Beide schüttelten den Kopf. Da die Böschens immer erschütterter wirkten, beschloss der Kommissar, es dabei bewenden zu lassen und erhob sich mit den Worten: „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte. Außerdem werde ich morgen einen Beamten vorbeischicken, der Ihre Tochter vernehmen wird, vorausgesetzt es geht ihr besser.“

Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch und ging zur Tür. Dabei nickte er Oest und Herkner zu und bedeutete ihnen so ihm zu folgen. Im Flur blieben sie kurz stehen, um die Beamten von der Spurensicherung, die gerade den Computer und den Inhalt des Schreibtisches sicherstellten und alles in Tüten verpackt die Treppe hinuntertrugen, vorbei zu lassen. Dann verließen auch sie das Haus. Im Garten zündete sich Schlichting eine Zigarette an und stellte sich mit Oest und Herkner in die Nähe der Polizeiwagen. Er beäugte missmutig das Haus. Es lag in einer ruhigen Wohngegend. Alles hier war absolut normal. Wieder schnaubte der Kommissar und blies dabei den Rauch durch die Nase hinaus.

Er wendete sich vom Haus ab und den beiden Polizisten zu. Sie waren jünger als er, um die dreißig, und hatten den familiären Hintergrund näher untersucht. Sie warfen sich nervöse Blicke zu, zweifellos fürchteten sie, Schlichting würde ihnen eine Standpauke halten. Sie hatten also nichts herausgefunden, was sie weiterbringen würde. Wieder schnaubte der Kommissar.

Herkner entschloss sich schließlich, das Wort zu ergreifen: „Julian Böschen, geboren am 16.04.1985. 1992 ist die Familie hierher gezogen. Die Schwester, Andrea, wurde 1993 geboren. Der Vater, Dirk Böschen, 44, ist Finanzbeamter. Die Mutter Erika, 39, war bis vor zwei Jahren Hausfrau und fing dann wieder an, als Sekretärin zu arbeiten. Die Familie hatte also relativ viel Geld zur Verfügung. Da beide Elternteile arbeiten, hat sich der Junge meistens um seine Schwester gekümmert. In der Schule hatte er immer gute Noten, allerdings wenige Freunde. Wir haben einen Namen, Christian Gerken. Die beiden hatten wohl die gleichen Hobbies und haben sich im Internet kennen gelernt. Er geht allerdings auf eine andere Schule. Von den Mitschülern und Lehrern erfahren wir bestimmt mehr.“

Nachdem er das gesagt hatte, wurde Herkner unsicher und stoppte. Er erwartete wohl gerügt zu werden. Schlichting jedoch zündete sich erst einmal die nächste Zigarette an und sagte dann: „Sie haben wahrscheinlich recht. Und vielleicht bringt uns auch der Computer weiter.“

Herkner atmete erleichtert aus und warf Oest einen Blick zu, so als wolle er ihm bedeuten, wie stolz er darauf war etwas richtig gemacht zu haben. „Das hat aber noch Zeit bis morgen“, fügte Schlichting hinzu. Es wurde schon langsam dunkel. Nachdem er seine Zigarette aufgeraucht hatte, holte er seine Autoschlüssel aus der rechten Jackentasche, schloss das Auto auf und stieg ein. Er sah noch ein letztes Mal zum Haus der Böschens, schnaubte und startete den Motor.

*

Am nächsten Tag gab es Morgennebel. Bernd Schlichting kam an diesem Morgen früh ins Büro. Er war der Erste. Der Fall hatte ihm keine Ruhe gelassen und um fünf Uhr morgens entschied er, es wäre besser, seine Zeit im Büro über den Akten zu verbringen, anstatt verzweifelt zu versuchen zu schlafen und es doch nicht zu schaffen. Also machte er sich einen starken Kaffee und aß zwei Marmeladentoasts, bevor er sich auf den Weg machte.

Im Büro holte er noch einmal die Akten hervor, die ganz unten im Stapel auf seinem Schreibtisch lagen. Die erste wurde vor zwei Tagen angefertigt. Sie behandelte einen Vorfall vom vorangehenden Tag. Bei diesem „Vorfall“ handelte es sich um den Mord an Julius Glas, 17, Sohn eines Spediteurs. Man fand Julius am Morgen des Dreiundzwanzigsten. Er wurde erschossen. Mit drei Schüssen in den Brustraum. Der Tatort war eine Seitenstrasse in der Nähe seines Elternhauses. Julius war am Samstag den zweiundzwanzigsten mit seinen Freunden Michael und Lars in die Diskothek gegangen. Das letzte Mal wurde er um 23 Uhr beim Verlassen besagter Diskothek lebend gesehen. Eine halbe Stunde später wurde er laut gerichtsmedizinischem Befund in besagter Seitenstrasse mit drei Schüssen getötet. Die Ballistikexperten waren sich sicher, dass es sich bei der Tatwaffe um eine Handfeuerwaffe handelte. Gefunden wurde er am nächsten Morgen von einem Anwohner. Den Mord selbst hatte keiner der Anwohner als solchen wahrgenommen, sie dachten entweder, jemand hätte einen Feuerwerkskörper gezündet oder einige Jugendliche hätten sich einen Spaß erlaubt. Als die Leiche gefunden wurde, fand man neben ihr einen Glasbehälter mit einer Flüssigkeit. Durch den Anblick der Leiche, die entstellt war, schockiert, rief man augenblicklich die Polizei. Als diese am Tatort ankam, fand sie die Leiche ohne Augen und Finger vor. Beides war im Glasbehälter neben der Leiche, zusammen mit einem weiteren Körperteil, bei dem es sich, wie sich später in der Gerichtsmedizin herausstellte, um die Zunge des Opfers handelte. Es wurde ebenfalls geklärt, dass das Entfernen der Körperteile post mortem stattfand, bald nach Eintreten des Todes. Am Tatort wurden keine Spuren des Täters gefunden, weder Fingerabdrücke noch Haare. Auch unter den Fingernägeln fand man nichts.

An diesem Morgen wurde noch eine weitere Leiche gefunden. Ein Spaziergänger entdeckte sie, als er morgens mit seinem Hund Gassi ging. Dieser Fall wurde in der zweiten Akte behandelt. Das Opfer Nummer zwei war Michael Schäfer, 17, ein Freund von Opfer Nummer eins und er war mit diesem und einem weiteren Freund am Abend zuvor in der Diskothek. Er verließ diese zwei Stunden nach Opfer Nummer eins, um zusammen mit seinem anderen Freund nach Hause zu gehen. Die beiden trennten sich nach etwa fünf Minuten. Wenig später wurde Michael mit zwei Schüssen in die Brust aus nächster Nähe ermordet. Auch ihn fand man in einer Seitenstrasse, die auf seinem Heimweg lag. Auch hier bemerkte niemand den Mord. Auch hier fand man keine Spuren der oder des Täter/s. Man fand jedoch heraus, dass die Tatwaffe in beiden Morden identisch war. Auch das Opfer Nummer zwei wurde kurz nach dem Tod verstümmelt. Michaels Kopf wurde abgetrennt und auf seinem Brustkorb platziert.

Man hatte also am Dreiundzwanzigsten zwei Morde, die wahrscheinlich vom selben Täter, da mit derselben Waffe, begangen wurden. Der Täter hatte seine Tat wahrscheinlich gut geplant, da keine Spuren gefunden worden waren und offenbar nach einem Zeitplan vorgegangen worden war. Auf die Planung deutete unter anderem das Glasbehältnis hin. Außerdem wurden beide Opfer verstümmelt und kannten sich sehr gut. Um Näheres zu erfahren, ging man am späten Nachmittag zu Lars Ahrens, dem Freund der beiden Opfer. So erfuhr man auch, wann die beiden die Diskothek verlassen hatten. Lars Ahrens war sichtlich geschockt als er erfuhr, dass seine beiden besten Freunde ermordet worden waren. Er erzählte den Beamten noch, dass seine Freunde und er beinahe jeden Samstag dieselbe Diskothek besuchten und Julius sie immer um dieselbe Zeit verließ, da er sonst Probleme mit seinem Vater bekommen hätte. Lars und Michael gingen meist erst ein paar Stunden später. Auf die Frage, ob er wisse oder vermute, wer der Täter sein könne, antwortete Ahrens er habe keine Ahnung, es gebe niemanden, den er kenne, der zu so etwas fähig wäre. Am Abend des Dreiundzwanzigsten waren sich die ermittelnden Beamten sicher, es handelte sich um geplante Morde, leider gewann man keine weiteren Erkenntnisse.

Schlichting seufzte und holte sich die nächste Akte. In ihr ging es um den Mord an der siebzehnjährigen Anna Wichmann. Anna war mit ihrer Freundin Irina Kaps am Abend des Dreiundzwanzigsten auf einer Party bei Freunden gewesen. Sie verließ diese erst um ein Uhr, obwohl am nächsten Tag Schule war, auch wieder mit ihrer Freundin. Anna fand man am nächsten Morgen in einem Springbrunnen im Park. Sie wurde mit einem Schuss aus nächster Nähe in die Stirn getötet. Der Tod trat um etwa zwei Uhr ein, eine Stunde nach Verlassen der Party. Nach ihrem Tod hatte der Täter Anna entkleidet und in den Brunnen etwa zweihundert Meter vom Tatort entfernt gelegt, mit dem Gesicht nach unten. Auf dem Weg fand man Blutspuren, die bewiesen, dass die Leiche bewegt wurde. Annas Freundin Irina fand man an einem Baum hängend einige Meter weiter. Auch sie wurde erschossen, mit zwei Schüssen in die Brust. Sie wurde nicht entkleidet, doch ein Seil war um ihr rechtes Fußgelenk gebunden und mit diesem wurde sie kopfüber am Baum aufgehängt. Der Tatort und die Tatzeit war in beiden Fällen identisch. Es handelte sich um einen Doppelmord. Auf Grund der Entwürdigung der Opfer ging man am Montagmorgen davon aus, dass man es mit einer Serie zu tun hatte. Dies wurde dadurch untermauert, dass in allen vier Fällen die Tatwaffe identisch war. Auch waren Opfer Nummer drei und vier mit den Opfern Nummer eins und zwei befreundet, wie sich später herausstellen sollte. Man war sich sicher, dass es weitere Morde geben würde. Die Schule der Opfer wurde bereits am Montagmorgen über den Tod der Schüler informiert. Dort erfuhr man dann auch, dass die Opfer eng miteinander befreundet waren und auch in dieselbe Klasse gingen. Die Lehrer wurden angewiesen, ihre Schüler davor zu warnen nachts das Haus zu verlassen. Statt des Unterrichts redete man über das Geschehene.

Schlichting öffnete die nächste Akte. In ihr ging es um den Mord an Lars Ahrens, der bereits am Tag zuvor, dem Sonntag, zu den Morden an seinen Freunden befragt wurde. Lars wurde in der Schule noch vor dem Mörder gewarnt. Er wurde kurz nach Schulschluss getötet. Aus nächster Nähe, mit einem Kopfschuss. Sein Gesicht war kaum noch zu erkennen und die Fetzten seines Gehirns lagen überall verteilt. Neben seiner Leiche fand man die von Julian Böschen, der sich selbst mit einem Kopfschuss getötet hatte. Die Waffe in seiner rechten Hand wurde genau untersucht und man kam zu dem Ergebnis, dass sie in allen sechs Fällen die Mordwaffe war. Die Seriennummer war unkenntlich gemacht worden und so war es unmöglich, den Besitzer zu ermitteln. Julian Böschen hatte seine Mitschüler getötet und anschließend sich selbst. Während die letzten Morde stattfanden, waren noch nicht einmal alle Fakten der beiden letzten Mordfälle geklärt. Nachdem man die Untersuchungsergebnisse der Waffe hatte, fuhr Kommissar Schlichting mit einigen anderen Polizeibeamten zu den Eltern der beiden Toten. Zuerst zu den Ahrens und schließlich zu den Böschens, als es bereits zu dämmern anfing.

Nun saß Schlichting am Morgen des Fünfundzwanzigsten in seinem Büro und dachte über das Motiv des Jungen nach. Am meisten versprach er sich von den Mitschülern und Lehrern sowie dem Freund des Jungen. Sie wurden noch nicht befragt, da sie am Tag zuvor die Schule bereits verlassen hatten, als Lars Ahrens ermordet wurde. Inzwischen kamen immer mehr Polizisten in die Wache. Bernd Schlichting verließ kurz sein Büro um einen Beamten zu den Böschens zu schicken, in der Hoffnung, deren Tochter könne vernommen werden. Sie hatte eine starke Erkältung und am Vortag ging es ihr zu schlecht. Außerdem war es auch noch nötig, Christian Gerken auf die Wache zu holen. Schlichtings Wahl fiel auf zwei Beamten, die sich gerade im Aufenthaltsraum unterhielten. Beide schienen nicht sehr glücklich mit ihrer Aufgabe zu sein. Dann verließ der Kommissar die Wache, um sich am Automaten gegenüber eine neue Packung Zigaretten zu ziehen. Bevor er in sein Büro zurückkehrte, machte er sich noch neuen Kaffee; den anderen hatte er bereits ausgetrunken. Es war inzwischen acht Uhr morgens, die meisten Schüler würden jetzt in der Schule ankommen. Er würde später mit einigen Beamten dorthin fahren. Vorerst kehre er in sein Büro zurück, um sich noch einmal die nächste Akte anzusehen. Dabei handelte es sich um ein Profil, das nach den ersten vier Morden angefertigt wurde. Das Meiste dessen, was der psychiatrische Gutachter geschrieben hatte, verstand Schlichting nicht. Eigentlich interessierte es ihn auch gar nicht. Am Ende des Dokuments fand sich noch eine Zusammenfassung. In ihr wurde betont, dass alle Opfer schnell gestorben waren und erst nach ihrem Tod verstümmelt wurden. Der Gutachter kam zu dem Schluss, der Täter sei im Grunde sensibel, wollte die Opfer aber dennoch erniedrigen. Dafür, dass immer zwei Opfer starben, fand er keine Erklärung. Schlichting hatte seine eigene Vermutung. Wahrscheinlich wollte der Junge alles schnell hinter sich bringen, um nicht erwischt zu werden. Aber warum wollte er seine Mitschüler erniedrigen? Wollte er sie bestrafen, wollte er von ihnen beachtet werden oder war er einfach nur eifersüchtig? Die fünf waren eng befreundet und recht beliebt, soviel konnte man aus den Aussagen von Lars Ahrens und den Gästen der Party am Sonntagabend schließen. Schlichting schnaubte leicht und blies dabei Rauch durch die Nasenlöcher, so dass er aussah wie ein grimmiger Drache. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Das war sogar für ihn ungewöhnlich. Es wurde Zeit, dass er diesen Fall abschloss. Dieses Warum machte ihn wahnsinnig.

*

Gegen zehn kam der Beamte, den Schlichting zu den Böschens geschickt hatte, zurück. Dem Mädchen, Andrea, ging es besser. Trotz ihrer starken Erkältung war sie inzwischen vernehmungsfähig. Auch sie hatte nichts Ungewöhnliches an ihrem Bruder bemerkt. Sie meinte nur, er sei im letzten Monat ungewöhnlich ruhig gewesen und habe dabei irgendwie entschlossen gewirkt. Keiner in der Familie hatte bemerkt, wie der Junge spätabends beziehungsweise frühmorgens das Haus verließ. Zu seiner neunjährigen Schwester schien er immer ein ungewöhnlich gutes Verhältnis gehabt zu haben.

Kurze Zeit später kamen auch die Beamten, die Christian Gerken hatten abholen sollen, mit diesem zurück. Christian war ein eher unscheinbarer Junge mit kurzen, dunkelblonden Haaren und einer etwas zu großen Nase. Er trug ein T-Shirt mit einem Der Herr der Ringe-Motiv und schien stark beunruhigt. Er hatte Julian über das Internet kennen gelernt. Beide waren etwa im gleichen Alter, Christian war acht Monate jünger, beide liebten Fantasy. Christian Gerken wohnte etwas weiter entfernt und machte bereits eine Lehre. Sein Vater war Polizist in einem Nachbarort.

„Wissen Sie, wieso Sie hier sind?“, fragte Schlichting. Der Junge vor ihm nickte, wurde käseweiß und bewegte sich nervös in seinem Stuhl.

„Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches an Ihrem Freund aufgefallen, hat er Andeutungen gemacht?“

„Eigentlich nicht“, begann der Junge vor ihm zögerlich, „Julian, wissen Sie, war schon immer etwas depressiv, seit ich ihn kenne. Er machte manchmal Andeutungen, wie sehr ihn alles ankotze, die Welt und so. Ich glaube, aus diesem Grund mochte er Fantasy und so so gerne.“

„Doch“, begann er nach einigen Sekunden erneut, „Vor ein paar Wochen hörte er irgendwann auf sich zu beschweren. Schien irgendwie einen Entschluss gefasst zu haben. Hat mir aber nie erzählt, was los war.“

Schlichting ließ die Worte einen Moment wirken dann stellte er die nächste Frage: „Wissen Sie, woher Ihr Freund die Waffe hatte, die Seriennummer war nicht zu erkennen?“ Während er dies sagte, fixierte Schlichting sein Gegenüber. Der Junge schien noch nervöser zu werden, als er ohnehin schon war. Seine Hände krallten sich jetzt in den Stuhl und er wirkte abwesend. Schlichting war der Ansicht, er überlege, was er tun sollte.

Schließlich stammelte Christian: „Wissen Sie, mein Vater …“

„Was ist mit ihm?“, bohrte Schlichting.

„… er ist Polizist und … und deshalb hat er bei uns zuhause einige Waffen und … na ja … vor zwei Wochen, da hat er mich beschuldigt eine gestohlen zu haben.“

„Was für eine Waffe war das?“

„Ich weiß es nicht, vielleicht sollten Sie meinen Vater fragen.“

Kommissar Schlichting bedeutete mit einem Nicken dem Beamten hinter Christian, die Sache sei hiermit erledigt und er solle jetzt die Aussage zu Protokoll nehmen.

Nachdem die beiden gegangen war, kam Oest in das Büro des Kommissars. Der beachtete ihn nicht und das schien den jungen Polizisten nervös zu machen. Schlichting kümmerte sich nicht darum. Er rauchte einfach eine Zigarette nach der andern und trank zwischendurch ein wenig Kaffee. Die Herkunft der Waffe war jetzt höchstwahrscheinlich geklärt, aber die Frage, die ihn am meisten quälte, war es immer noch nicht. Dieses verfluchte Warum!

Um halb elf schließlich kam ein Beamter von der Spurensicherung hastig in sein Büro gestürmt und legte eine Akte auf den Tisch.

„Verzeihung, dass es so lange gedauert hat. Der Junge hatte die Dateien gut gesichert“, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ er das Büro wieder.

Skeptisch nahm Schlichting die Akte. Darin lag eine Zusammenfassung der Dateien. Die meisten waren bedeutungslos. Eine jedoch war mit gelbem Textmarker markiert worden. Schlichting blätterte weiter und fand schließlich, wonach er gesucht hatte: einen Ausdruck der Datei. Es war ein kurz gehaltener Abschiedsbrief, falls man das so nennen konnte. Schlichting fand es klang mehr nach einer Rechtfertigung:

Wenn ihr das hier lest, dann bin ich tot und mit mir einige andere. Ich habe das nicht getan, weil ich angst hatte, auch nicht aus Rache. Ich tötete mich auch nicht selbst, weil ich mich vor meiner Schuld flüchten wollte. Ich kann nur diese Schmerzen nicht mehr ertragen.

Nun war der Kommissar entgültig durcheinander. Was für Schmerzen hatte der Junge? Er beschloss, dass es nun an der Zeit war, mit den Lehrern und Mitschülern zu reden. Er bedeutete Oest ihm zu folgen. Dieser blickte ihn schon fragend an.

„Holen Sie Herkner, ich erklär’s Ihnen im Wagen“, sagte er knapp.

*

Um elf waren sie in der Schule. Es dauerte einige Minuten, bis sie das Lehrerzimmer erreichten. Der Direktor hatte sie bereits erwartet und führte sie in sein Büro, wo sie bereits von einer Frau Ende vierzig erwartet wurden. Schlichting zündete sich erst einmal eine Zigarette an. Die Frau war völlig aufgelöst und schien viel geweint zu haben, ihre Augen waren gerötet. Der Direktor stellte sie als Maria Schröder vor, die Klassenlehrerin des Jungen, danach verließ er den Raum. Die drei Polizisten nahmen sich Stühle und setzten sich, so dass sie Frau Schröder gegenüber saßen

„Guten Tag“, begann Schlichting. Nach kurzer Pause und ohne Antwort fuhr er fort, „Ist Ihnen in letzter Zeit irgendetwas an Ihren Schülern aufgefallen?&ldquo

Die Lehrerin blickte auf, sah Schlichting einen Sekundenbruchteil direkt in die Augen und schüttelte dann den Kopf.

„Was waren sie für Menschen, wie haben Sie Täter und Opfer erlebt?“

Frau Schröder seufzte und begann: „Nun, Julian war immer ein Außenseiter, seit ich ihn kenne hatte er nie irgendwelche Freunde. Er war ein ruhiger und gewissenhafter Schüler. Außerdem war er sehr sensibel. Ich hätte ihm so etwas nie zugetraut.“ Sie nahm sich ein Papiertaschentuch aus der Box auf ihrem Schoß.

„Und die anderen?“

„Sie waren praktisch das Gegenteil von Julian, sie hatten viele Freunde und waren im Unterricht sehr lebendig. Sie gehörten zu einer Clique von Schülern, die hier sehr beliebt ist.“

„Gibt es sonst noch etwas wichtiges, was wir wissen sollten?“

„Nein.“

„Danke für ihre Mitarbeit, Frau Schröder.“

Schlichting schüttelte ihr noch die Hand und verließ dann zusammen mit Oest und Herkner den Raum. Danach teilten sich die Beamten auf und befragten die anderen Lehrer. Die Aussagen stimmten weitgehend überein. Einige fügten noch hinzu, dass sich die Opfer im Unterricht öfters abfällig über Julian geäußert hatten.

In der Zwischenzeit hatte der Direktor die Schüler aus dem Unterricht geholt. Dieser bestand nur einen Tag nach dem letzten Mord eh nur aus Gesprähen über das Geschehene. Die Schüler, siebzehn waren noch aus der Klasse von Opfern und Täter übrig, drei aus der Clique der Opfer, die in anderen Klassen waren, waren auf verschiedene Räume verteilt worden, so dass man sie besser befragen konnte.

Bevor die Befragung begann, sprach Schlichting mit den beiden anderen noch die Fragen ab, dann teilten sie sich erneut auf. Schlichting übernahm die drei Schüler aus anderen Klassen. Als er den Raum betrat, ein Physikraum, blickten die drei schlagartig auf. Sie schienen sich unterhalten zu haben und Schlichting hatte sie offenbar unterbrochen. Ungerührt nahm er sich einen Stuhl und setzte sich vor die Schüler, ein Mädchen mit kurzen, wasserstoffblonden Haaren, eines mit mittellangen braunen Haaren und einem auffälligen rosa T-Shirt und ein Junge in Skaterkleidung mit auffälligen Goldkettchen um den Hals. Die drei sahen ihn immer noch gespannt an.

„Nun, Sie sind …“, Schlichting zog einen Zettel aus seiner Jackentasche, „Markus Schröder.“, der Junge nickte, „Ina Wohltmann.“, das blondierte Mädchen hob leicht die Hand, „und Carina Tietjen.“ Das Mädchen im rosa T-Shirt reagierte gar nicht.

„Sie waren mit den Opfern befreundet, ist das korrekt?“

Die Schüler nickten leicht.

„Wissen Sie, warum Julian Böschen das getan hat?“

„Weil er ein total krankes Arschloch war“, murrte Markus Schröder, „Das haben wir schon immer gewusst. Er war immer so komisch und hat sich für diesen Science-Fiction-Scheiß interessiert. Der war Obenrum doch nicht mehr ganz richtig!“

„Was meinen Sie mit ‚schon immer‘?“

„Na ja, uns war eben von Anfang an klar, dass mit dem etwas nicht stimmte.“

„Haben Sie ihn das spüren lassen?“

Einen Moment lang schwiegen sie, dann meldete sich Ina Wohltmann zu Wort: „Wir waren zwar nicht besonders freundlich, aber das ist noch lange kein Grund andere Menschen umzubringen!“ Ihre Stimme wurde immer lauter, die letzten Worte hatte sie fast geschrieen.

„Was ist mit den Opfern, haben sie irgendetwas getan, das seine Aufmerksamkeit hätte erregen können?“

Die drei sahen sich ratlos an, schließlich verneinten sie. Schlichting bedankte sich noch für ihre Mitarbeit und verließ dann den Raum. Er hatte zum ersten Mal eine Ahnung, wo ihn die Ermittlungen hinführen würden. Diese Ahnung gefiel ihm gar nicht. Im nächsten Raum, ebenfalls einem Physikraum, warteten nur zwei Schüler, Jungen. Wie sich bald herausstellte, waren sie weder mit dem Täter noch den Opfern befreundet gewesen.

„Haben Sie eine Ahnung, warum Ihr Mitschüler das getan hat?“

Sie blickten sich unsicher an, dann begann einer von ihnen: „Es ist allgemein bekannt, dass Julius und seine Freunde … nicht besonders viel für Julian übrig hatten. Schon nach zwei Tagen machten sie sich ständig über ihn lustig. Sie haben dann Witze über Jedi-Ritter und so gerissen. Sie fanden es albern, dass er Fantasy so mochte. Ich hab mich nie getraut, etwas dagegen zu machen, sonst wäre ich der nächste gewesen, ich mag sowas nämlich auch“, er wurde rot, „Es blieb aber nicht bei Beleidigungen. Einmal hat Anna absichtlich Milch über ihn verschüttet und seine Sportschuhe wurden zerschnitten.“

An dieser Stelle mische sich der andere Junge plötzlich ein: „Aber das war doch noch nicht einmal das Schlimmste. Als ich einmal etwas später die Schule verlassen hab’, hab’ ich gesehen, wie sie ihn verprügelt haben. Ich hatte Angst und deshalb bin ich so schnell wie möglich abgehauen.“

„Das Meiste und Schlimmste hat wahrscheinlich niemand mitbekommen“, sagte der andere Junge. Beide sahen inzwischen total verstürt aus und blickten betreten zu Boden.

„Wissen Sie von weiteren solcher Vorfälle?“

Beide nickten.

„Ist Ihnen bekannt, ob er sich jemandem anvertraut hatte?“

Sie schüttelten die Köpfe.

Schlichting beendete auch dieses Gespräch. Er verließ den Raum so schnell wie möglich. Er brauchte jetzt einen Zigarette. Oest und Herkner warteten bereits am anderen Ende des Flur auf ihn. Die letzten Worte aus Julians Abschiedsbrief hallten im Kopf des Kommissars wider. Ich kann diese Schmerzen nicht mehr ertragen.

Ende