In der großen Stadt
(Zehn Jahre vor Caronia)
Oreas saß gemeinsam mit seiner Mutter im Wagen, eingepackt in Lagen verschiedenster Stoffe. Er blickte misstrauisch durch die Lücken in den Stoffbahnen des Planwagens, hinaus auf die glänzend weißen Fassaden, die sich so sehr von allem unterschieden, was er kannte. Ihre Farbe erinnerte ihn etwas an Wolken, mit den blau-grauen Schatten, die die Nachmittagssonne in die Winkel der Häuser zauberte. Nur waren Wolken flauschig und weich, ständig änderten sie ihre Form. Die Häuser hingegen standen hart und unbeweglich an den Straßenrändern, und ihnen mangelte es an jedweder Wärme und Flauschigkeit. Zumindest für den achtjährigen Jungen, der das erste Mal in seinem Leben die Hauptstadt sah. Er kam schließlich zu dem Schluss, dass die Häuser am meisten mehrere Tage altem Schnee ähnelten, dessen Oberfläche durch das Schmelzen unter der Mittagsonne hart gefroren war.
Eingeschüchtert durch die fahlen Bauten presste sich Oreas tiefer in die Decken, näher an die Brust seiner Mutter, die ihm aber nicht die gewünschte Beachtung schenkte. Stattdessen blickte sie weltvergessen aus dem Wagen, die Stirn gerunzelt. Es war der Ausdruck, den sie manchmal annahm, wenn die anderen Kinder von den Nachbarfarmen Oreas gehänselt hatten und er weinend zu ihr kam, oder wenn die Männer auf der Straße in Erador ihnen Wörter hinterher riefen, die Oreas nicht kannte. Das mulmige Gefühl, das bisher von seiner Aufregung über die große Reise in die hinterste Ecke seines Bewusstseins verdrängt wurde, breitete sich nun in seinem Magen aus. Er wünschte sich, sein Vater säße bei ihnen im Wagen anstatt draußen auf dem Kutschbock.
Versunken in seinen dunklen Gedanken beachtete Oreas die Stadt und ihr Treiben nicht weiter, bis der Wagen plötzlich anhielt. Sie waren da. Er konnte sich immer noch nicht ausmalen, was der König von ihnen wollte.
Spätwintermorgen
(Frühjahr nach Caronia)
Es war ein unglaublich klarer Morgen, dachte Melanon. Keine Wolke zierte den tiefblauen Himmel, nur die schneebedeckten Bergkuppen verstellten den Blick in den Himmel. Die kalte Morgenluft kündete von einem strahlend schönen, wenn auch kühlen Tag. Im Tal oder in der Steppe war schon längst der Frühling eingezogen, nur die einsame Bergfestung wehrte sich noch eisern. In einigen Wochen würde auch sie den Kampf aufgeben müssen, doch an diesem Morgen lag noch sanfter Raureif auf den spärlichen Pflanzen der Stadt.
Melanon seufzte, als er aus dem Fenster seines Zimmers blickte. Er konnte die Kälte beinahe fühlen. Oder hatte sie sich über die vergangenen Monate so in ihm festgefressen, dass er sie einfach nicht mehr loswurde? Er wusste es nicht und zog einfach seinen Mantel enger an seinen Körper. Vor einem Jahr hatte sich sein Leben nach Jahren der Eintönigkeit geändert, ob zum Guten oder zum Schlechten, dessen war er sich noch nicht sicher. Er wusste nur, dass er sein Bestes gab. Und dass dieser Tag sein Leben verändern würde. Er fürchtete sich und wünschte sich nichts mehr als seine Freunde, doch die wenigen, die er besaß, hatte er verloren. Nun, das konnte er nicht ändern, er musste es alleine schaffen. Sonst hätte er den ganzen Winter umsonst gearbeitet.
„Euer Hoheit?“, frage jemand jenseits der offenen Tür.
Melanon wandte sich um. Milam wartete mit unsicherem Blick.
„Es ist Zeit zu gehen, Hoheit, sie werden bald da sein“, fügte er hinzu.
Melanon reagierte nicht, er starrte nur abwesend vor sich hin, was den ohnehin nervösen Milam nur noch mehr verunsicherte.
„Sie sollten langsam damit aufhören, Milam“, ermahnte er ihn schließlich tonlos.
Milam seufzte ergeben. „Sie kommen bald“, wiederholte er ruhig.
Melanon nickte. „Ich komme ja gleich.“ Ein letzter Blick aus dem Fenster, ein Seufzer, und Melanon ließ endgültig den berauschenden Anblick des Frühjahrsmorgens hinter sich. Er fühlte sich seltsam matt, als er die Gänge hinabschritt. Jedes Geräusch hallte in den leeren Hallen wider. Der Gang in den Empfangssaal schien ihm ewig zu dauern, auch wenn er ihn nur wenige Minuten gekostet haben konnte. Melanon vermutete, dass das am wichtigsten Tag seines Lebens wohl zu erwarten war.
Die anderen Männer, die sich in dem herausgeputzten Saal versammelt hatten, wirkten nicht viel selbstbewusster als er sich fühlte. Auf einigen Gesichtern sah er das Misstrauen, das ihm immer noch entgegenschlug, auf anderen Unsicherheit und auf wieder anderen glänzte die Angst. Nichts von dem war ihm neu, in den letzten Monaten hatte er die meisten der Männer besser kennen gelernt als ihm lieb war. Trotzdem, in diesem Moment schien es Melanon, als konzentrierten sich all die Gefühle, die sie im Winter beschäftigt hatten. Oder vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Die Flügeltür zum Saal öffnete sich und rief Melanon unsanft in die Gegenwart zurück.